Der Schatten

Lautes Poltern, dann der Klang von Glas, das auf hartem Holzboden zerspringt. Ein gedämpftes Schnauben. Alexandra stand steif vor ihrer Wohnungstür. Die Hand mit dem Schlüssel wenige Millimeter vor dem Schlüsselloch wie eingefroren.

Die Geräusche kamen aus ihrer Wohnung.

Einbrecher? Was war das für ein Schnauben? Was ging hier vor? Was sollte sie tun?

Sie löste sich aus ihrer Starre, zog die Hand mit dem Schlüssel zurück, machte einen Schritt rückwärts.

Wieder das Klirren von Glas. Wieder das gedämpfte Schnauben. Alexandra zuckte.

Hastig durchwühlte sie ihre Tasche. Irgendwo tief darin hatte sie ein Pfefferspray. Sie spürte das kühle Metall des Druckkörpers, umschloss die Dose, zog sie hervor. Mit der anderen Hand schob sie den Schlüssel ins Schlüsselloch. Ganz langsam und so leise wie möglich drehte sie den Schlüssel.

Einmal. Zweimal.

Sie drückte die Klinke herunter, gab der Tür einen Stoss. Mit mehr Wucht als sie erwartet hatte, flog die Tür auf und krachte an die Wand.

Der Gestank nach Verwesung, Kot und Erbrochenem schlug ihr entgegen.

Ihr wurde schlecht. Alexandra musste sich abwenden.

Sie hörte wieder das Schnauben. Jetzt weniger gedämpft und gefolgt von einem schwachen Winseln.

Sie zog sich den Schal über Nase und Mund, wendete sich wieder dem Eingang zu.

Der Parkettboden im Gang war übersät von Schleifspuren und tiefen Furchen.

Mit vorgehaltenem Pfefferspray machte sie einen ersten Schritt in die Wohnung. Mit jedem weiteren Schritt wurde der Gestank stärker. Der Schal vor ihrem Gesicht hielt ihn kaum zurück.

Sie ging bis zur ersten Tür im Gang. Die Schleifspuren führten dort hinein. Das Badezimmer. Die Tür war angelehnt.

Alexandra hielt inne.

Wie sollte sie vorgehen? Tür aufstossen und einfach drauflos sprühen? Anklopfen?

Sie spürte wie sie am ganzen Leib zitterte. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals als wollte es aus ihr heraus springen und sich in Sicherheit bringen.

Sie gab sich einen Ruck und der Tür einen starken Tritt.

Das Fenster über der Badewanne stand weit offen. Der Spiegel, der eigentlich über dem Waschbecken hängen sollte, verteilte sich auf dem Boden. Einige Fliesen an den Wänden hatten Risse. Ansonsten war da nichts. Kein Einbrecher, kein Ungeheuer.

Lautes Brüllen aus Richtung der Küche. Das Geräusch von Krallen, die über Kachelboden scharren.

Alexandra schwang herum.

Am Ende des Ganges sah sie im Halbdunkel einen Schatten verschwinden.

Der Gang tat sich an seinem Ende zu einem weiten Raum auf. Links um die Ecke ging es in die Küche, rechts in eine Galerie.

Der Schatten hatte sich nach links gewendet. Alexandra ging zum Ende des Ganges, presste sich an die Wand. Vorsichtig schob sie ihren Kopf nach vorne, blickte um die Ecke.

Sie erstarrte erneut. Ihr Herz setzte einen Moment aus.

Der Schatten hatte sich unter dem Esstisch verkrochen, füllte den ganzen Platz darunter aus. Hatte sie nicht erst gestern mit sieben Freunden an diesem Tisch gefeiert?

Alexandra sah verklebtes Fell. Es könnte mal braun gewesen sein. Jetzt hatte es die Farbe von eingetrocknetem Blut.

Der Körper des Schattens hob und senkte sich sehr schnell. Zwischen kurzen, schwachen Atemstössen, die dem Hecheln eines erregten Hundes ähnelten, aber nichts von dessen Freude hatten, hörte Alexandra wieder das Winseln.

Der Boden unter dem Fell war mit einer dunklen, schmierigen Schicht überzogen. Alexandra konnte nicht sagen, ob der Gestank von dieser Schicht oder dem Schatten selbst ausging. Er war hier in der Küche allgegenwärtig.

Sie zog sich in den Gang zurück.

In Ihrer Wohnung war lag ein wildes, verletztes Tier unter dem Tisch. Sie hatte grosse Tatzen mit langen, spitzen Krallen erkannt. Der Kopf war gross wie ein Riesenkürbis. Der Schatten hatte aber nicht in ihre Richtung geblickt. Sie hatte nur den Hinterkopf sehen können.

Alexandra wusste nicht was für ein Tier das war. Der Grösse und den Proportionen nach zu urteilen ein Bär. Aber das war vollkommen absurd. Wo sollte der herkommen. Ihre Wohnung lang mitten in Zürich. Auf zwei Seiten des Hauses waren stark befahrene Strassen, auf der dritten lag die Bahnlinie. An die vierte grenzte ein kleiner Garten. Danach kam wieder ein Haus.

Ein schmerzerfülltes Grunzen holte sie aus ihren Gedanken zurück.

Sie musste etwas tun. Alexandra liess sich in die Hocke sinken, immer noch eng an die Wand gedrückt. Mit einer Hand hielt sie das Pfefferspray in Richtung Gangende, mit der anderen kramte sie in der Tasche nach ihrem Handy, wählte den Notruf, presste das Telefon ans Ohr.

Etwas stimmte nicht.

Das Freizeichen klang seltsam. Es war nicht das gewohnte einsekündige Piepen. Es war ein Schrillen.

Alexandra nahm das Telefon vom Ohr. Das Schrillen blieb. Sie schloss die Augen. Das Schrillen blieb.

Sie öffnete die Augen und stellte den Wecker ab.

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MAZ-Abschlussarbeit

Das Handy – Goldgrube und Sorgenkind

Wiederverwerten. Recyceln. Was bei Papier und PET gut funktioniert, ist bei Handys sehr viel schwieriger. 

In einem Handy stecken 45 Metalle. Edelmetalle, Nicht-Eisen-Metalle, Seltene Erden. Gold, Silber, Palladium. Zinn, Kobalt, Lithium. Lohnt es sich deshalb, Handys zu recyceln? In der Schweiz gibt es einen Mann, der das weiss. Bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Er ist der Geschäftsführer von Swico Recycling. Der Mann heisst Jean-Marc Hensch.

Hensch kommt gerade vom Mittagessen. Mit einer Mitarbeiterin hat er darüber diskutiert, wie Recycler mit beschädigten Akkus umgehen sollten. Jetzt steht er in der Cafeteria in den Zürcher Büros des Verbands, neben ihm, in der Ecke, blickt eine mannshohe Statue aus kalten Augen. Eine Art humanoider Roboter. Zusammengesetzt aus alten Platinen, Festplatten, Prozessoren, Kabeln, Schaltern.

Hensch führt vorbei am Roboter in ein Sitzungszimmer. Da stehen Tische und Stühle für 15 vielleicht 20 Menschen. Hensch nimmt an einem Tisch in der Ecke Platz. Lohnt es sich, Handys zu recyceln? Er nippt an seinem Kaffee, bevor er antwortet. «Ja. Ja! Unbedingt», sagt er.

Ergiebigste Goldmine gewinnt 9 Gramm Gold pro Tonne Erde

Wieso? «Denken Sie an Gold», sagt Hensch. «Was glauben Sie, woher das Gold kommt?» Aus dem Boden. Aus Minen. Der Swico-Chef nickt ernst. In der ergiebigsten Mine der Welt, sie liegt in Südafrika bei Johannesburg, wühlen die Arbeiter in 4000 Metern Tiefe. Von dort unten bringen sie vor allem Erde und Geröll an die Oberfläche. Aus einer Tonne dieses Gerölls gewinnen sie 5 Gramm Gold.

Es wird immer weniger Gold aus dem Boden geholt

Etwas mehr als die Hälfte des weltweiten Goldbedarfs kommt aus Minen wie dieser. Noch. Denn die Minen geben immer weniger her. Der Gold-Peak, also der Punkt, an dem die weltweite Fördermenge ihr Maximum erreicht, liegt Jahre zurück. Seither sinkt die Ausbeute. Handys sind dagegen echte Goldgruben. In einer Tonne Handys stecken etwa 350 Gramm Gold. Eine Tonne? Das sind ungefähr 10 000 Handys.

Zu versuchen, mehr aus Handys oder anderer Elektronik herauszuholen, sei jedoch bedenklich. Da müsse man aufpassen. Warum? «Jeder wird Ihnen sagen, dass wir möglichst viel recyceln, möglichst viel wieder herausholen müssen», sagt Hensch und schüttelt den Kopf. «Aber das ist falsch.»

Gesetzliche Vorgaben sind zu unscharf

Man müsse eine vernünftige Balance finden, sagt Hensch. Genau schauen, wann sich der Effort des Recycelns wirklich lohne. Eigentlich gibt es dazu gesetzliche Vorgaben. Sogenannte Recyclingquoten. Die geben vor, wie viel Prozent eines bestimmten Gerätes oder einer bestimmten Produktklasse wiedergewonnen werden müssen. Bei einem Auto liegt die Quote bei knapp 90 Prozent. Bei Handys sind es inzwischen 80 Prozent.

Die 80 Prozent beziehen sich jedoch auf das Gesamtgewicht eines Handys. Wiegt ein Handy 100 Gramm, müssen also 80 Gramm Material wiederverwertet werden.

Wie sich die 80 Gramm zusammensetzen, spielt bei der Quote keine Rolle. Allein das Gehäuse – meist Kunststoff – macht etwa die Hälfte des Gewichts eines Handys aus. Das stört nicht nur Hensch, sondern auch Rolf Widmer. Widmer überprüft, ob sich die Recyclingpartner des Verbands an den Umweltschutz halten, ob sie sachgerecht und nach Vorgabe recyceln. Der Mann arbeitet bei der Empa, der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. Sie ist der ETH Zürich angegliedert. Widmer ist seit 15 Jahren bei der Empa.

Wenn er nicht gerade zwischen den Empa-Standorten in St.Gallen, Dübendorf und Thun hin- und herpendelt, reist er um die halbe Welt. Er macht sich ein Bild davon, wie in Ghana recycelt wird, betreut das Recycling von Kunststoff in Indien. Dazwischen hat er ein paar Stunden Zeit für ein Gespräch. Er sitzt in der Empa-Kantine in Dübendorf. Widmer trinkt einen letzten Schluck Kaffee, erhebt sich und führt durch schmucklose, weisse Gänge in einen Schulungsraum im ersten Stock.

Das Handy ist eine gute Mine

Die wirklich wertvollen, seltenen Elemente machen nur einen Bruchteil des Gesamtgewichts eines Handys aus, wie Widmer sagt. «Die Quote des Gesetzgebers beachtet das aber nicht.»

Sein Blick wird ernst. Er zeigt auf das Handy, das vor ihm auf dem Tisch liegt. «Das ist eigentlich eine gute Mine», sagt Widmer. Er meint die 45 Metalle, die in dem Handy stecken. «Wenn wir uns sehr viel Mühe geben, holen wir 15 bis 20 der Metalle wieder heraus.» Die restlichen gehen verloren. Sie sind weg.

Metalle lösen sich wie Salz in der Suppe

Wie können die einfach weg sein? «Metalle sind wie Salz in einer Suppe», sagt Widmer. Um die Metalle aus den Handys wieder heraus zu bekommen, setzt man drei Töpfe auf. Sehr grosse Töpfe, die viel Hitze vertragen.

Im ersten Topf brodelt die Kupfersuppe. Geschmolzenes Kupfer. Da wirft man das Handy hinein. Während die Plastikteile des Gehäuses und der Platinen verbrennen, lösen sich die verschiedenen Metalle im flüssigen Kupfer. Wie das Salz in der Suppe eben.

Das machen aber nicht alle Metalle. Die weniger edlen wie Lithium und Seltene Erden oxidieren. Sie schwimmen oben auf und bilden eine Kruste. Die sogenannte Schlacke. Schwermetalle, vor allem Blei, sinken ab. Auf dem Weg zum Topfboden nimmt das Blei weitere Metalle mit. Das können Zinn und Antimon sein.

Schliesslich sticht man den Topf unten an. Das flüssige Blei fliesst ab. Es kommt in den zweiten Topf. Darin brodelt die Bleisuppe. Durch das Beifügen von Kohlenstoff kehrt sich der Prozess. Die in der Suppe gelösten Metalle trennen sich vom Blei.

Die Schlacke wird zu Baumaterial

Die Kupfersuppe aus Topf eins landet im dritten Topf. Dort wird mittels Elektrolyse das Kupfer gereinigt, damit es am Ende hochrein ist, wie Widmer sagt. Denn Kupfer kann man nur in seiner reinsten Form für Kabel oder sonstige Elektronik verwenden. Am Boden dieses Topfs bildet sich eine Schlammschicht. Darin schwimmen Edelmetalle wie Gold, Palladium, Platin und Silber. Die scheidet man im nächsten Schritt ab. Die so gewonnenen Edelmetalle haben die gleiche Qualität wie Edelmetalle aus der Natur.

Zurück bleibt die Restschlacke. In ihr landen sich die weniger edlen Elemente: Tantal, Lithium und Seltene Erden wie Neodym und Lanthan. Die Schlacke wird zu Baumaterial. Beispielsweise für Deiche an den Küsten. Die Wellen nagen sie mit der Zeit wieder ab. «Nach hundert oder tausend Jahren sind die Metalle dann im Sand und Meer verschwunden», sagt Widmer. Giftig für die Umwelt sei das nicht.

Rohstoffe sind wie bedrohten Arten

Wieso versucht man nicht, diese Metalle aus der Schlacke zurückzugewinnen? Widmer winkt ab. «Das braucht viel zu viel Energie», sagt er. Die Frage ist: Wer entscheidet das? Wer hat das Recht, Elemente zu vergeuden? Widmer selbst fragt das. Er hat keine Antwort. «Es ist wie bei den bedrohten Pflanzen- und Tierarten», sagt er. «Wir können nicht alle retten.» Doch welche lassen wir über die Klippe springen? Welches sind die wichtigen Elemente?

Etwas weniger dramatisch sieht das ein Mann, der sich bestens mit den Suppentöpfen auskennt. Er arbeitet für den belgischen Recylingkonzern Umicore. Der Konzern betreibt eines der wenigen Schmelzwerke Europas. In der Schweiz gibt es kein Schmelzwerk. Die meisten der in der Schweiz gesammelten Handys landen in den Töpfen von Umicore.

Der Mann heisst Christian Hagelüken. Zusammen mit Widmer war er in Indien. Hagelüken hält Vorträge an Schulen, versucht, junge Menschen für das Thema Recycling zu sensibilisieren.

«Es geht viel verloren», sagt Hagelüken am Telefon. Man müsse aber schauen, was in den Handys wirklich sonst noch drin sei. Er sagt nicht, dass Recycling von Handys nichts bringt. Die Konzentration vieler Metalle in den Handys ist allerdings so gering, dass er deren Verlust nicht so sehr bedauert wie Widmer. Hagelüken bedauert stattdessen, dass nur ein Bruchteil der Handys überhaupt in den Recyclinganlagen ankommt.

Das Handy ist eine wichtige Rohstoffquelle

Problematisch sei nur Tantal. Das werde heute praktisch gar nicht recycelt, sagt Hagelüken. Das Metall ist wichtig für Kondensatoren und die stecken in jedem Computer. Auch in Handys.

Trotzdem seien Handys eine wichtige Quelle für Rohstoffe. Schliesslich seien seit Erfindung des Mobiltelefons weltweit etwa 15 Milliarden Handys verkauft worden, sagt Hagelüken. «Wenn das Handy zu einem Wegwerfartikel wird, geht das in die falsche Richtung.» Deshalb ist es wichtig, dass überhaupt Geräte zurückkommen. Und zwar am besten getrennt von anderem Elektroschrott, sagt Hagelüken.

Bei Umicore kommen ein paar hundert Tonnen Handys pro Jahr an. Ein Teil davon stammt aus der Schweiz. 2013 landeten laut Swico Recycling 94 Tonnen oder 590 000 Handys in Schweizer Sammelstellen. 2014 kamen 110 Tonnen oder 685 000 Handys zurück.

Das ist nicht sonderlich viel. Vor allem angesichts der Verkaufszahlen. 2011 kauften die Schweizer laut Swico 3 Millionen Smartphones. 2012 waren es 3,3 Millionen. 2013 kauften sie 3,5 Millionen. Im Jahr 2014 kletterten die Zahlen auf 3,6 Millionen. Klassische Mobiltelefone mit eingerechnet. Die Hochrechnung für 2015 liegt bei 3,8 Millionen. Macht zusammengenommen rund 17 Millionen Handys!

Ein Handy, das 2011 gekauft wurde, landet nicht unbedingt zwei Jahre später in einer Sammelstelle. Die alten Geräte seien dann meistens noch nicht kaputt, sagt Hensch.

Was geschieht mit ihnen? «Wir wissen wenig darüber», sagt Widmer. Ein Handy «lebt» etwa fünf Jahre. Während dieser Zeit hat es im Schnitt zwei Besitzer. Denn die Mobilfunkanbieter offerieren ihren Kunden in der Regel alle zwei Jahre ein neues Modell. Das alte wandert in der Familie weiter, landet in der Schublade oder wird verkauft, wie Hensch vermutet.

Was genau passiert, will der Swico anhand einer gerade laufenden Marktstudie herausfinden. Sie soll zeigen, warum die Handys nicht nach den zwei bis fünf Jahren in den Sammelstellen landen.

Smartphones machen Recyclern zu schaffen

Während Hensch rätselt, wo die alten Handys bleiben und sich Widmer um die verlorenen Metalle sorgt, beschäftigen Hagelüken noch ganz andere Probleme. Die wachsende Zahl der Smartphones bereitet ihm Kopfzerbrechen.

Warum? «Smartphones haben fast ausschliesslich eingeklebte Akkus», sagt er. «Niemand kann diese Akkus bei Umicore rauslösen. Wir schmelzen sie mit ein.» Und das ist schlecht. In den Akkus steckt Lithium und Kobalt. Beides landet in der Schlacke und somit im nächsten Deich. Wären die Akkus nicht eingeklebt, könnte man sie entfernen und separat recyceln. So wäre wenigstens das Kobalt zu retten. Lithium recycelt man wie das Tantal bislang nicht. Die Konzentration von Lithium in der Natur ist laut Widmer höher als in den Akkus. Solange das so ist, lohne es sich nicht, Lithium zu recyceln.

Die eingeklebten Akkus sind derweil nicht nur für Hagelüken und Umicore ein Problem. In der Schweiz gibt es noch jemanden, dem sie Falten auf die Stirn werfen. Seit 20 Jahren ist er in der Branche. Er heisst Markus Stengele.

Akkus können nur von Hand entfernt werden

Er arbeitet bei Solenthaler Recycling in Gossau, St. Gallen. Der Betrieb ist einer der acht Partner von Swico Recycling. Bei Solenthaler werden Handys zerlegt und für die Schmelze vorbereitet.

Stengele trägt eine orangefarbene Warnweste. Unter dem Arm einen Baustellenhelm. Er kommt gerade aus einer der Werkshallen.

«Die Hersteller sind verantwortungslos», sagt er. «Sobald es um Design und Verkaufszahlen geht, interessiert Recycling niemanden mehr.» Es gebe Handys, die seien sehr sehr schlecht zu demontieren, sagt er.

Mehr als die Hälfte der Handys, die bei Solenthaler in Gossau ankommen, haben einen kaputten Akku. «Wenn Lithiumakkus defekt sind, können sie sich aufblasen. Dann sind sie gefährlich», sagt Stengele. Warum? «Sie können in Brand geraten oder explodieren.» Stengele seufzt, lässt die Hände schwer auf den Tisch fallen. «Wir wissen nicht, wie wir das handhaben sollen.»

Da die Akkus in den meisten Smartphones verklebt seien, sei es sehr gefährlich, sie zu entfernen. Wegen der Brand- und Explosionsgefahr könnten sie nicht von einer Maschine entfernt werden. Da ist Handarbeit gefragt. Stengele hat eine Demontageanleitung für die Mitarbeiter von Solenthaler geschrieben. Eigens für Mobiltelefone. Die Anleitung umfasst knapp zehn Seiten. «Niemand interessiert sich für recyclinggerechte Konstruktion und sichere Rücknahme», sagt Stengele. Sichere Rücknahme? «Bei einigen Sammelstellen landen die Handys in Containern. Die Handys fliegen mehrere Meter durch die Luft und erleiden heftige Stösse.»

Defekte Akkus und heftige Stösse vertragen sich nicht. Immer wieder komme es zu Bränden bei den Sammelstellen, sagt Stengele. Er hat noch eine Anleitung geschrieben. Eine Versandanleitung für seine Lieferanten. Vier Seiten mit Bildern. Sie erklärt, wie Handys mit defekten Akkus sicher verschickt werden können.

Aufgrund der Anleitungen von Stengele wird es vielleicht weniger Brände geben. Das Recycling wird dadurch jedoch nicht besser. Die Frage ist, was besser werden muss. Das Recycling oder der Umgang mit Ressourcen? «Mittel- bis langfristig werden sich die Rohstoffvorkommen der Erde nicht erschöpfen», sagt Hagelüken. «Aber die Abbaubedingungen verschlechtern sich, der Energiebedarf und die Umweltbelastung werden zunehmen.» Es bleibt dabei: Möglichst viele Geräte müssen zurückkommen. Auch wenn das nicht alle Probleme löst.

Das machen die Schweizer Mobilfunkanbieter

Swisscom, Sunrise und Salt müssen als Verkäufer von Handys, wie alle Verkäufer, die Geräte ihrer Kunden und Nichtkunden zurücknehmen. Alle drei haben über diese Pflicht hinaus spezielle Rücknahmeprogramme. Sie bieten ihren Kunden Geld für alte Handys. Kunden von Swisscom können den Betrag, den sie für ihr altes Gerät erhalten, direkt von Swisscom an SOS Kinderdörfer spenden lassen.

Alle drei Anbieter prüfen die Handys auf ihre Funktions­fähigkeit. Sie löschen gespeicherte Daten und verkaufen die Geräte anschlies­send weiter. Abnehmer sind in den meisten Fällen Länder in Asien oder ­Afrika. Die Telefone entziehen sich so dem Schweizer Recyclingsystem.

Recycling in Entwicklungsländern

Laut Christian Hagelüken werden Handys ausserhalb der EU oft in Hinterhöfen unter widrigen Umständen ­recycelt. Handys und Platinen anderer Elektrogeräte werden einfach abgebrannt. Das Plastik schmilzt weg, das Metall bleibt. Im Plastik der Platinen sind sogenannte Flammhemmer. «Wenn Sie die ohne Filteranlagen abbrennen, haben Sie eine Dioxinfabrik», sagt Hagelüken. In den Hinterhöfen passiert das unter freiem ­Himmel. Die Schadstoffe gehen ungefiltert in die Atmosphäre.

Das so gewonnene Metall wird dann mit aggressiven Lösungsmitteln wie Zyanid oder Königswasser getrennt. Die Reste landen im Abfluss. Gold gewinnt man in diesen Hinterhöfen laut Hagelüken mit Quecksilber über einem Bunsenbrenner. Ebenfalls unter freiem Himmel und ohne Atemschutz.

Trotzdem ist laut Hagelüken in Entwicklungsländern wie Ghana oder Indien nicht alles schlecht, was das ­Recycling betrifft. Beim Sammeln von Altgeräten seien die Menschen dort oft viel besser als in den Industriestaaten. Sie können bei entsprechendem Training Altgeräte auch besser und günstiger zerlegen. «Das Problem ist der eigentliche Verarbeitungsprozess, wenn es in die Metallurgie und Chemie geht, darf das nicht dort mit primitiven und gefährlichen Methoden in den Hinterhofbetrieben passieren», sagt Hagelüken.

Der 2005 ins Leben gerufene Best-of-two-Worlds-Ansatz setzt genau da an. Elektrogeräte aus Entwicklungsländern sollen dort gesammelt und zerlegt werden. Kritische, komplexe Komponenten da­raus wie ­Leiterplatten oder Akkus sollten dann aber in modernen Anlagen in den Industriestaaten verarbeitet werden. Die Erlöse aus den gewonnenen Rohstoffen sollen zurückfliessen.

Der Artikel erschien in der Netzwoche, IT-Markt und CEtoday im Verlag Netzmedien. Mit der Geschichte habe ich meine Ausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ im April 2016 erfolgreich beendet. Parallel zu der Geschichte im Print habe ich eine Multimedia-Arbeit produziert. 

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Was ist eine Parkuhr?

Eine Parkuhr ist keine Uhr. Sie sieht nicht mal aus wie eine. Keine Zeiger, kein Zifferblatt. Die Zeit zeigt sie auch nicht an. Jedenfalls nicht die Tageszeit. Und sie steht nicht im Park. Irgendwie verwirrend. Parkuhr. Keine Uhr, kein Park.

Die Parkuhr zählt rückwärts. Minuten. Stunden. Das aber macht sie nicht umsonst. Sie verlangt Geld für’s Zählen. Manchmal mehr, manchmal weniger. Das hängt davon ab, wie lange sie zählen soll. Und in welcher Stadt, in welchem Quartier sie steht. Im Gegenzug darf ich mein Auto in ihrer Nähe abstellen. Auf einem markierten Parkplatz – der hat auch nichts mit dem Park zu tun. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich frage mich: Was soll das? Wieso muss ich dafür zahlen, dass eine Uhr, die keine ist, Zeit rückwärts zählt, während mein Auto in ihrer Nähe steht? Laut Bundesverfassung ist die Benützung öffentlicher Strassen gebührenfrei. Das schliesst das Parkieren ein, sofern es gemeinverträglich ist. Heisst für mich, dass ich mein Auto nicht mitten auf der Strasse abstellen sollte.

Die Liebhaber der unverständlichen Sprache beim Bundesgericht sehen das anders. Sie entschieden dereinst, dass das Abstellen eines Fahrzeuges auf einem Parkfeld – Synonym zu Parkplatz und somit ebenfalls nicht verwandt mit dem Park – in der Innenstadt wegen grosser Nachfrage bereits ab 30 Minuten nicht mehr gemeinverträglich ist. Deshalb gibt es die Parkuhr. Deshalb muss ich zahlen.

Eine Uhr ist schön. Ein Park auch. Die Parkuhr nicht.

Diese Betrachtung habe ich im Maz-Kurs „Satire, Kolumne, Glosse“ bei Gisela Widmer geschrieben. 

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Tomaten

Simone blinzelte. Sie blickte sich um. Sie sah grüne Plastikkisten mit Äpfeln, leicht gekippt auf Tischen, die mit orangefarbenen bis auf den Boden hängenden Tüchern bedeckt waren. Simone legte den Kopf schief, genau in den Winkel der Apfelkisten.

Menschen packten zwei, drei oder vier Äpfel in durchsichtige Plastiksäcke und gingen zu einem Gerät mit einer Metallschale und ganz vielen Zeichen, die für Simone keinen Sinn ergaben.

Sie rümpfte die Nase. Äpfel mochte sie nicht.

Den Kopf weiterhin im Winkel der gekippten Apfelkisten haltend ging sie ein paar Schritte vorwärts, drehte sich um ihre eigene Achse. Ihr linkes Auge begann zu zucken. Überall Äpfel.

„Wo sind die Nachtschattenbeeren?“, schrie sie mit schriller Stimme.

Einige der Apfelmenschen blickten sie irritiert an. Einer davon trug eine grüne Schürze und kam auf sie zu. Ein Gärtner, dachte Simone. Der konnte ihr helfen.

Sie richtete ihren Kopf wieder auf und steuerte den Gärtner an.

„Ich brauche 41 Nachtschattenbeeren“, sagte sie dem Gärtner und kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

Der Gärtner packte Simone mit seiner linken Hand sanft am Arm und stach ihr mit der rechten die Nadel einer Spritze in den nackten Oberarm.

Simones Glieder wurden mit einem Mal bleischwer. Müdigkeit überkam sie. Sie wollte aber nicht schlafen, sie brauchte doch so dringend die Beeren der Nachtschattenpflanze. Bevor sich ihre Augen schlossen, verwandelte sich die grüne Schürze des Gärtners in einen weissen Kittel. Neben dem Weisskittel erschien ein zweiter, die Hände auf den Griffen eines Rollstuhls. Die Apfelmenschen verschwammen, Simones Augen schlossen sich.

André stand vor dem Regal mit Dosen. Immer wenn er in den Supermarkt ging, suchte er als erstes den Gang mit den Konserven auf. Er kaufte keine. Er stand einfach da und betrachtete Mais in der Dose, Erbsen in der Dose, Artischocken in der Dose, Champignons in der Dose, Sardinen in der Dose.

„Ich weiss wie ihr euch fühlt“, sagte er leise und liess den Kopf hängen.

„Ich würde euch gern befreien, aber die Welt hier draussen ist auch nur ein Gefängnis.“

Ein schriller Schrei schreckte ihn auf. Das kam aus der Obst- und Gemüseabteilung. Da musste er ohnehin noch hin. Ein letzter Blick auf die Dosen, dann wandte er sich ab und schlurfte zum Ende des Gangs.

In der Gemüseabteilung angekommen notierte er ohne Interesse wie eine junge Frau von zwei Krankenpflegern oder Ärzten – was spielte es schon für eine Rolle – in einen Rollstuhl gehievt wurde.

André seufzte und blickte in Richtung der Tomaten.

André mochte Tomaten nicht sonderlich. Aber sie standen auf seinem Einkaufszettel und sie waren das einzige Gemüse, das er ohne Handschuhe berühren konnte. Ihre glatte Oberfläche schmeichelte der Haut seiner Hände. Die rote Farbe der Frucht stach aus dem tristen Grau der Welt hevor. Sie leuchteten fast. Als hätten Sie das Licht der Sonne gespeichert.

Nur noch wenige Schritte trennten ihm von seinem kleinen Glücksmoment als ihn plötzlich jemand von der Seite anrempelte.

„Oh Verzeihung, ich habe Sie nicht gesehen. Ich hatte wohl Tomaten vor den Augen. Hahahaha“, sagte der hochgewachsene Mann, der André angerempelt hatte. Dabei hielt er sich zwei faustgrosse Tomaten vor die Augen und wollte gar nicht mehr aufhören, zu lachen.

Das war‘s. André stellte seinen Einkaufskorb auf den Boden und verliess den Supermarkt.

„Die Welt ist ein Gefängnis, voller Irrer“, flüsterte er.

Roger wusste nicht wie er in den Supermarkt gekommen war. Aber das war egal. Er stand mitten in der Gemüseabteilung und sog die Luft ein. Er nahm einen Apfel in die Hand und schnupperte daran. Strich zärtlich über Birnen, grinste bis über beide Ohren. Alles um ihn herum strahlte in Farben, wie er sie noch nie gesehen hatte. Der Nüsslisalat leuchtete wie ein Smaragd. Die Rüebli glühten wie Lava. Sein Blick fiel auf die Tomaten. Was für ein Rot.

Roger griff sich eine und rieb sie an die Wange. Er küsste sie, nahm eine zweite. Aus dem Augenwinkel sah er einen jungen Mann, der seiner kranken Frau liebevoll in einen Rollstuhl half.

Roger drückte sich die Tomaten vor die Augen. Auf einmal stiess er gegen einen Widerstand. Vor ihm stand ein kleiner gebückter Mann, mittleren Alters. Er hatte tiefe Augenringe und roch nach modrigem Leder.

Der könnte etwas Aufmunterung gebrauchen, dachte Roger.

„Oh Verzeihung, ich habe sie nicht gesehen. Ich hatte wohl Tomaten vor den Augen“, sagte Roger und lachte lautstark. Er konnte gar nicht aufhören, zu lachen.

Roger bemerkte nicht, wie der kleine Mann seine Einkäufe auf dem Boden abstellte und den Supermarkt verliess.

Die Geschichte habe ich im Maz-Kurs „Schreiben wie eine Schriftstellerin“ bei Angelika Overath geschrieben. 

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