Der Schatten

Lautes Poltern, dann der Klang von Glas, das auf hartem Holzboden zerspringt. Ein gedämpftes Schnauben. Alexandra stand steif vor ihrer Wohnungstür. Die Hand mit dem Schlüssel wenige Millimeter vor dem Schlüsselloch wie eingefroren.

Die Geräusche kamen aus ihrer Wohnung.

Einbrecher? Was war das für ein Schnauben? Was ging hier vor? Was sollte sie tun?

Sie löste sich aus ihrer Starre, zog die Hand mit dem Schlüssel zurück, machte einen Schritt rückwärts.

Wieder das Klirren von Glas. Wieder das gedämpfte Schnauben. Alexandra zuckte.

Hastig durchwühlte sie ihre Tasche. Irgendwo tief darin hatte sie ein Pfefferspray. Sie spürte das kühle Metall des Druckkörpers, umschloss die Dose, zog sie hervor. Mit der anderen Hand schob sie den Schlüssel ins Schlüsselloch. Ganz langsam und so leise wie möglich drehte sie den Schlüssel.

Einmal. Zweimal.

Sie drückte die Klinke herunter, gab der Tür einen Stoss. Mit mehr Wucht als sie erwartet hatte, flog die Tür auf und krachte an die Wand.

Der Gestank nach Verwesung, Kot und Erbrochenem schlug ihr entgegen.

Ihr wurde schlecht. Alexandra musste sich abwenden.

Sie hörte wieder das Schnauben. Jetzt weniger gedämpft und gefolgt von einem schwachen Winseln.

Sie zog sich den Schal über Nase und Mund, wendete sich wieder dem Eingang zu.

Der Parkettboden im Gang war übersät von Schleifspuren und tiefen Furchen.

Mit vorgehaltenem Pfefferspray machte sie einen ersten Schritt in die Wohnung. Mit jedem weiteren Schritt wurde der Gestank stärker. Der Schal vor ihrem Gesicht hielt ihn kaum zurück.

Sie ging bis zur ersten Tür im Gang. Die Schleifspuren führten dort hinein. Das Badezimmer. Die Tür war angelehnt.

Alexandra hielt inne.

Wie sollte sie vorgehen? Tür aufstossen und einfach drauflos sprühen? Anklopfen?

Sie spürte wie sie am ganzen Leib zitterte. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals als wollte es aus ihr heraus springen und sich in Sicherheit bringen.

Sie gab sich einen Ruck und der Tür einen starken Tritt.

Das Fenster über der Badewanne stand weit offen. Der Spiegel, der eigentlich über dem Waschbecken hängen sollte, verteilte sich auf dem Boden. Einige Fliesen an den Wänden hatten Risse. Ansonsten war da nichts. Kein Einbrecher, kein Ungeheuer.

Lautes Brüllen aus Richtung der Küche. Das Geräusch von Krallen, die über Kachelboden scharren.

Alexandra schwang herum.

Am Ende des Ganges sah sie im Halbdunkel einen Schatten verschwinden.

Der Gang tat sich an seinem Ende zu einem weiten Raum auf. Links um die Ecke ging es in die Küche, rechts in eine Galerie.

Der Schatten hatte sich nach links gewendet. Alexandra ging zum Ende des Ganges, presste sich an die Wand. Vorsichtig schob sie ihren Kopf nach vorne, blickte um die Ecke.

Sie erstarrte erneut. Ihr Herz setzte einen Moment aus.

Der Schatten hatte sich unter dem Esstisch verkrochen, füllte den ganzen Platz darunter aus. Hatte sie nicht erst gestern mit sieben Freunden an diesem Tisch gefeiert?

Alexandra sah verklebtes Fell. Es könnte mal braun gewesen sein. Jetzt hatte es die Farbe von eingetrocknetem Blut.

Der Körper des Schattens hob und senkte sich sehr schnell. Zwischen kurzen, schwachen Atemstössen, die dem Hecheln eines erregten Hundes ähnelten, aber nichts von dessen Freude hatten, hörte Alexandra wieder das Winseln.

Der Boden unter dem Fell war mit einer dunklen, schmierigen Schicht überzogen. Alexandra konnte nicht sagen, ob der Gestank von dieser Schicht oder dem Schatten selbst ausging. Er war hier in der Küche allgegenwärtig.

Sie zog sich in den Gang zurück.

In Ihrer Wohnung war lag ein wildes, verletztes Tier unter dem Tisch. Sie hatte grosse Tatzen mit langen, spitzen Krallen erkannt. Der Kopf war gross wie ein Riesenkürbis. Der Schatten hatte aber nicht in ihre Richtung geblickt. Sie hatte nur den Hinterkopf sehen können.

Alexandra wusste nicht was für ein Tier das war. Der Grösse und den Proportionen nach zu urteilen ein Bär. Aber das war vollkommen absurd. Wo sollte der herkommen. Ihre Wohnung lang mitten in Zürich. Auf zwei Seiten des Hauses waren stark befahrene Strassen, auf der dritten lag die Bahnlinie. An die vierte grenzte ein kleiner Garten. Danach kam wieder ein Haus.

Ein schmerzerfülltes Grunzen holte sie aus ihren Gedanken zurück.

Sie musste etwas tun. Alexandra liess sich in die Hocke sinken, immer noch eng an die Wand gedrückt. Mit einer Hand hielt sie das Pfefferspray in Richtung Gangende, mit der anderen kramte sie in der Tasche nach ihrem Handy, wählte den Notruf, presste das Telefon ans Ohr.

Etwas stimmte nicht.

Das Freizeichen klang seltsam. Es war nicht das gewohnte einsekündige Piepen. Es war ein Schrillen.

Alexandra nahm das Telefon vom Ohr. Das Schrillen blieb. Sie schloss die Augen. Das Schrillen blieb.

Sie öffnete die Augen und stellte den Wecker ab.

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Folge 9

Das Ende

Jede Geschichte ist irgendwann vorbei. Auch die Geschichte von Urs Amschwyler. Bevor Amschwyler abtritt, ­tragen sich jedoch Dinge zu, denen er hilflos ausgeliefert ist. 

Amschwyler öffnete die Augen. Nichts. Er blinzelte. Es blieb dunkel. Schmerz durchfuhr Amschwylers Körper. Sein Kopf dröhnte. Er lag auf seiner linken Seite. Unter ihm un­ebener Steinboden, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Er versuchte, sich zu drehen. Keine Chance. Fesseln auch an den Füssen. Panik ergriff ihn.

Was ging hier vor? Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Warum konnte er nichts sehen? Seine Gedanken überschlugen sich.

Bleib ruhig, ermahnte er sich. Amschwyler lauschte. Totenstille.

Da plötzlich ein Geräusch, ein leises Rascheln, ein Kratzen. Etwas streifte seine Beine. Eine Ratte? Amschwyler schauderte es.

Mit einem Mal nahm er den Geruch wahr, der ihn umgab: eine Mischung aus faulenden Kartoffeln und Kot, kombiniert mit einem Hauch von Verwesung. Amschwyler wurde übel. Bleib ruhig, ermahnte er sich erneut.

Er versuchte, sich zu konzentrieren. Was war seine letzte Erinnerung? Die Kantonspolizei hatte Ermittlungen im Fall Seidler eingeleitet. Die Polizisten waren nach Stanglisbiel gekommen, untersuchten den Tatort und sahen sich die Aufnahmen der Überwachungskameras an. Die gesamten Aufnahmen.

Daraufhin wollten sie Amschwyler mit aufs Revier nehmen. Immerhin: Er durfte in seinem eigenen Wagen fahren – eskortiert von zwei Streifenwagen. Nach gut zwei Stunden hatten ihn die Beamten entlassen. Amschwyler war zu seinem Auto zurückgekehrt, hatte es aufgeschlossen, sich hinters Steuer gesetzt und … nichts mehr. Schwärze.

Jemand musste im Auto auf ihn gewartet und ihn betäubt haben. Seinen Kopfschmerzen nach zu urteilen mit Chloroform. Die Panik versuchte wieder Besitz von ihm zu ergreifen.

Etwa zur gleichen Zeit sass Alfons Stampfli in seinem Büro in Stanglisbiel. Er schlug mit beiden Händen auf die Tastatur vor ihm ein. Gerade, als er eine E-Mail hatte schreiben wollen, war sein Bildschirm eingefroren. Nichts funktionierte mehr.

Stampfli griff zum Telefon und hämmerte Amschwylers Nummer in die Tasten. Der IT-Chef nahm nicht ab. Wütend wählte Stampfli Amschwylers Handynummer. Kein Freizeichen, direkt die Combox.

Stampfli schnaubte. Die Tür zu seinem Büro flog auf. Seidlers Stellvertreter.

„Dr. Stampfli! Die Produktion steht still. Nichts geht mehr. Sämtliche Maschinen streiken, kein PC reagiert auf Eingaben. Und ich kann Amschwyler nirgends finden“, keuchte der Mann, an dessen Namen sich Stampfli nicht erinnern konnte.

Stampfli runzelte die Stirn. Was passierte hier?

Seidlers Stellvertreter wartete. Stampfli räusperte sich und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich plötzlich ein Fenster auf seinem Bildschirm öffnete. Es sah aus wie ein Video. Doch das Fenster war schwarz.

„Sehen Sie sich das an. Hier passiert irgendetwas auf meinem Rechner“, sagte Stampfli und winkte Seidlers Stellvertreter heran.

Der Monitor leuchtete mit einem Mal grell auf. Das Videofenster zeigte einen Kellerraum. Im gleissenden Scheinwerferlicht krümmte sich in der Mitte des Raumes eine gefesselte Gestalt. Ihr Gesicht war von der Kamera abgewandt. Stampfli musste das Gesicht nicht sehen, um zu erkennen, wer da lag.

Das Fenster schloss sich wieder, der Bildschirm fror wieder ein. Stampfli wandte den Blick vom Monitor ab und schaute zu Seidlers Stellvertreter. Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Stampfli griff zum Telefon und wählte die Nummer des leitenden Ermittlers im Fall Seidler.

Amschwylers Herz raste. Er wollte schreien, aber seine Stimme versagte. Nach Atem ringend versuchte er sich auf den Rücken zu drehen. Es klappte nicht. Nachdem er sich aufgrund des Gestanks beinahe hatte übergeben müssen, war die Dunkelheit mit einem Mal gleissender Helligkeit gewichen. Scheinwerfer hatten den Raum für etwa zehn Sekunden mit Licht durchflutet.

Jetzt verschlang die Dunkelheit wieder jedwede Kontur im Raum. Doch auf Amschwylers Netzhäuten tanzten alle möglichen Farben und Blitze. Einmal mehr ermahnte er sich zur Ruhe.

Amschwylers Herzschlag normalisierte sich langsam. Er bekam wieder mehr Luft. Seidler kam ihm in den Sinn. Wer immer Seidler überfallen hatte, musste auch hinter der Entführung stecken. Doch mit welcher Absicht? Amschwyler hörte, wie ein schwerer Riegel beiseite geschoben wurde. Ein Licht­strahl teilte das Dunkel. In der Tür erschien eine Gestalt. Das Gegenlicht machte es Amschwyler unmöglich, Details zu erkennen.

Die Gestalt kam näher, das Gesicht hinter einer Maske verborgen. Die gleiche Maske, die Amschwyler im Überwachungsvideo gesehen hatte – eine hässliche Fratze, die direkt vom Set eines Horrorfilms hätte stammen können. Amschwyler begann zu schwitzen, sein Herzschlag beschleunigte sich wieder.

„Sie sind wach, Amschwyler. Gut!“, sagte der Maskierte. Amschwyler beruhigte sich augenblicklich. Er kannte diese Stimme.

Alfons Stampfli blickte einem IT-Spezialisten der Kantonspolizei über die Schulter. Der Spezialist sass an Stampflis Schreibtisch, seine Finger flogen über die Tasten. Stampfli verstand weder was noch wie der Mann es angestellt hatte, aber nach nur wenigen Augenblicken war Stampflis PC aus seiner Starre erwacht. Jetzt versuchte der Beamte, den Auslöser für das Einfrieren und das eigenartige Video-­Pop-up zu finden.

Stampfli wandte sich ab und ging an das Fenster, das zum Vorplatz der Stampfli AG gerichtet war. Er blickte auf die Überreste des Sockels, auf dem die unsägliche Statue gestanden hatte. Der alte Mann seufzte.

Der leitende Ermittler stand auf einmal neben Stampfli und berührte ihn sanft an der Schulter. „Herr Stampfli, wir haben Herrn Amschwylers Wagen gefunden.“

„Wie das?“, fragte Stampfli erstaunt.

„Handyortung. Das Telefon lag im Wagen. Von Herrn Amschwyler selbst fehlt allerdings jede Spur.“

Stampfli nickte und blickte wieder aus dem Fenster. Er fühlte sich mit einem Mal alt. Vielleicht war es das Beste, den Laden dicht zu machen oder zu verkaufen. Ein Aufschrei riss Stampfli aus seinen Gedanken.

„Ich hab ihn“, frohlockte der IT-Spezialist. „Bluemeweg 26 in Grantikon.“ Stampfli zuckte zusammen.

„Das … kann …“, er räusperte sich. „Das kann nicht sein, meine Herren. Ich kenne die Adresse. Es ist das Elternhaus meiner Frau. Mein Sohn Sylas wohnte dort nach seinem Studium.“ Der leitende Ermittler hob die Augenbrauen.

„In diesem Fall, Herr Stampfli, werden wir dort wohl nicht nur Herrn Amschwyler finden. Ich habe schon eine ganze Weile den Verdacht, dass Ihr Sohn hinter all dem steckt.“

Stampfli schüttelte vehement den Kopf. „Das glaube ich nicht. Warum sollte er …?“

„Nun, wir werden in Kürze Gewissheit haben. Wenn Sie wollen, können Sie beim Zugriff dabei sein.“ Die Worte waren das Stichwort für die Beamten. Sie packten ihre Sachen zusammen, forderten zwei Einsatzwagen zur Verstärkung an und machten sich auf den Weg nach Grantikon. Stampfli begleitete sie.

Das Haus sah verlassen aus. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Der Garten verwildert.

„Herr Stampfli, gibt es einen Hintereingang?“, fragte der Einsatzleiter. Stampfli nickte.

Der Einsatzleiter sprach einige Befehle in sein Funkgerät und bedeutete Stampfli, während des Zugriffs hinter ihm zu bleiben.

Ein weiterer Befehl ins Funkgerät und die Polizisten setzten sich in Bewegung.

Die Maske war jetzt ganz nah vor Amschwylers Gesicht. Schlechter Atem strömte unter der Maske hervor. Was war mit dem Jungen bloss passiert? Amschwyler entschied sich für Angriff.

„Sylas! Was soll das Theater?“ Der Maskierte machte einen Satz zurück. Amschwyler hörte den jungen Stampfli hinter der Maske schwer atmen.

Mit der rechten Hand zog er ein furchteinflössendes Messer aus einer Tasche hinter seinem Rücken. Mit der linken riss er sich die Maske vom Kopf und schleuderte sie von sich.

„Amschwyler, Amschwyler, Amschwyler.“ Sylas schüttelte den Kopf. „Warum konnten Sie nicht einfach mitspielen? Jetzt kann ich Sie leider nicht mehr gehen lassen.“

Amschwyler spürte, wie die Panik wieder Besitz von ihm ergriff. Er wand sich hin und her, versuchte irgendwie von Sylas wegzukommen. Es half nichts. Sylas rückte wieder ganz nah an Amschwyler heran und hielt ihm das Messer an die Kehle.

Amschwyler schloss die Augen, wartete auf den erlösenden Schmerz.

„Eigentlich ist es eine Schande“, flüsterte Sylas in Amschwylers Ohr. „Ich habe Sie immer gemocht. Sie werden mir fehlen.“

Der Schmerz kam. Aber nicht dort, wo Sylas die Klinge in Amschwylers Hals gedrückt hatte. Sylas war plötzlich zusammengesackt und lag jetzt schlaff neben Amschwyler auf dem Boden. Amschwyler selbst spürte ein Stechen in seiner rechten Schulter. Sein Hemd fühlte sich nass an. Blut.

Amschwyler blickte in Richtung Tür. Mehrere Polizisten in Vollmontur strömten in den Kellerraum. Einer befreite Amschwyler von seinen Fesseln, zwei weitere tasteten nach dem Puls bei Stampflis Sohn. Zu viel für Amschwyler, er verlor das Bewusstsein.

Als Amschwyler seine Augen wieder öffnete, lag er in einem Spitalbett. Auf einem Stuhl neben ihm sass Alfons Stampfli. Er hatte die Augen geschlossen.

Amschwyler versuchte, sich aufzusetzen. Schmerz durchfuhr seine rechte Schulter. Er unterdrückte einen Schrei. Stampfli erwachte.

„Amschwyler! Schön, sind Sie wieder unter uns.“ Stampfli strahlte.

Amschwyler wandte sich ab. Nach allem, was passiert war, wollte er mit dieser gestörten Sippe nichts mehr zu tun haben.

„Gehen Sie bitte, Herr Stampfli. Ich weiss nicht, was mit Ihnen und Ihrer Familie nicht stimmt, aber ich bin fertig mit Ihnen.“

Stampfli stutze. „Aber …“

Amschwyler richtete seinen Blick wieder auf Stampfli. „Verschwinden Sie!“

Stampfli erwiderte den Blick einige Sekunden lang. Amschwyler hielt Stand. Der Alte griff sich seinen Gehstock, nahm den Mantel, den er über die Lehne gehängt hatte, und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 8

Der Anfang vom Ende?

Amschwyler hat das Outsourcing-Projekt erfolgreich durchgeboxt. Seither plagen ihn aber verschiedene ­Bedenken zur Sicherheit des Netzwerks. Deshalb will er jetzt komplett auf IPv6 umstellen. Bevor er Stampfli überzeugen kann, hält jedoch ein völlig anderes Problem den ganzen Betrieb in Atem.

Urs Amschwyler lehnte sich zurück. Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Der Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es längst Zeit war, den Heimweg anzutreten. Ein letztes Mal überflog er seine Notizen am Bildschirm. Amschwyler nickte zufrieden, speicherte das Dokument ab und fuhr den Rechner herunter. Morgen würde er mit Stampfli darüber ­sprechen.

Amschwyler drehte gerade den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür um, als er ein dumpfes Poltern hörte. Es klang, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Ein weiterer Blick auf die Uhr. Halb neun. Ausser ihm sollte um diese Zeit niemand mehr im Betrieb sein. Amschwyler folgte dem Geräusch. Die Tür zu Seidlers Büro stand einen Spalt breit offen. Ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Gang. Seidler und Überstunden? Das sah dem Produk­tionsleiter gar nicht ähnlich. Amschwyler lauschte. Rascheln, Kratzen, leises Fluchen. Amschwyler zuckte mit den Schultern. Was interessierten ihn die Überstunden Seidlers? Der IT-Chef der Stampfli AG machte auf dem Absatz kehrt und verliess das Gebäude.

Am nächsten Morgen war Amschwyler schon sehr früh wieder in Stanglisbiel. So früh, dass er damit rechnete, der erste im Betrieb zu sein. Als Amschwyler auf den Parkplatz der Stampfli AG fuhr, standen dort aber schon zwei Fahrzeuge: Der Zweitwagen des alten Stampfli – sein Range Rover war noch immer mitsamt Sohn verschwunden – und Seidlers Volvo. Seltsam, dachte sich Amschwyler. Es sah nicht so aus, als ob Seidler seinen Wagen seit gestern bewegt hatte. Amschwyler zuckte mit den Schultern. Was interessierten ihn die Überstunden Seidlers.

In seinem Büro angekommen, kündigte sich Amschwyler telefonisch bei Stampfli an. Amschwyler klemmte sich sein Notebook unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Büro seines Chefs. Der Weg führte ihn zwangsläufig an Seidlers Büro vorbei. Die Tür war geschlossen. Amschwyler hielt inne. Wenn Seidler im Haus war, stand seine Tür immer offen. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte sich Amschwyler, ging aber weiter. Sein Anliegen dünkte ihm wichtiger als die Irrungen und Wirrungen des Produktionsleiters.

Amschwyler klopfte an die Tür seines Chefs, wartete auf das gebrummte „Herein“ und trat ein. Stampfli wühlte sich gerade durch einen Stapel Unterlagen. Für jemanden, der sich vor nicht ganz zwei Wochen selbst aus dem Spital entlassen hatte, sah er erstaunlich fit aus, dachte Amschwyler. Trotzdem wirkte Stampfli unausgeglichen, rastlos. Was Amschwyler allerdings kaum verwunderte. Die Suche nach Stampflis Sohn Sylas verlief bisher erfolglos. Versuche, den Wagen zu orten, waren gescheitert. Gleiches galt für das Handy. Sylas wollte offenbar nicht gefunden werden.

Amschwyler setzte sich unaufgefordert auf einen der beiden Sessel vor Stampflis Schreibtisch. Erst jetzt blickte Stampfli auf. Der Alte zuckte zusammen. Obwohl er kaum fünf Sekunden vorher „herein“ gebrummt hatte, schien er Amschwyler nicht bemerkt zu haben. „Amschwyler! Woher zum …“, Stampfli stockte. Er erinnerte sich, Amschwyler hereingebeten zu haben. Stampfli räusperte sich. „Guten Morgen, Amschwyler. Was kann ich für Sie tun?“ Amschwyler klappte sein Notebook auf und öffnete das Dokument, an dem er am Vorabend gearbeitet hatte. „Herr Dr. Stampfli, ich würde gern unsere gesamte Netzwerkinfrastruktur auf IPv6 umstellen.“ Stampfli hob die Hand, noch bevor Amschwyler auch nur anfangen konnte, sich zu erklären. „IPv… wie viel? Was erzählen Sie mir da, Amschwyler? Muss ich mich wirklich jetzt damit befassen?“, polterte der Alte. Amschwyler rollte mit den Augen. Stampfli sah nicht nur besser aus, er hatte auch zu seinem gewohnten Umgangston zurückgefunden.

„Hätten Sie mich nicht unterbrochen, wüssten Sie jetzt vermutlich schon mehr. IPv6 ist der Nachfolger von IPv4. Es steht für Internet Protocol Version 6 respektive 4. Früher lief Version 6 unter dem Namen IPnG für Internet Protocol next Generation. Die Internet Engineering Task Force, IETF, legte diesen neuen Standard für die Übertragung von Daten, insbesondere im Internet, bereits 1998 fest.“ Amschwyler stoppte seine Ausführungen. Stampflis linkes Augenlied zuckte. „Was wird das hier, Amschwyler?“ Stampflis Stimme überschlug sich schon fast wieder. „Wenn ich eine Geschichtsstunde will, gehe ich ins Museum. Kommen Sie zum Punkt. Was bringt das, und was kostet es?“ Amschwyler blickte auf den Bildschirm seines Notebooks. „IPv6 hat eine ganze Reihe von Vorteilen. Für uns ist beispielsweise die höhere Sicherheit im Vergleich zu IPv4 interessant. IPv6 erlaubt es, Verbindungen zwischen Routern einfacher zu vertrauen. Adressen und Identitäten lassen sich leichter verifizieren. Das käme unseren automatischen Lieferantenbestellungen zugute.“ Amschwyler beobachtete über den Bildschirmrand hinweg Stampflis Reaktionen. Das linke Auge seines Chefs hatte sich wieder beruhigt. So weit, so gut. «Bevor ich weiter auf die Vorteile eingehe … Im Zuge der Installation unserer Videoüberwachung haben wir unsere Netzwerkinfrastruktur ja fast vollständig erneuert. Wir müssen deshalb kaum Neuanschaffungen tätigen. Die neue Hardware ist bereits IPv6-kompatibel.“

Bevor Stampfli etwas darauf entgegnen konnte, flog die Tür zu Stampflis Büro auf. Mit einem lauten Krachen stiess sie gegen den Türstopper. Das Türblatt zitterte. Nach Luft ringend stürmte Seidlers Praktikant in den Raum. „Herr Stampf… Ich meine Herr Dr. Stampfli … Sie … müssen … Herr Seidler … gefesselt … schwere Kopfverletzung … in seinem Büro.“ Amschwyler lief es kalt den Rücken herunter. Seidler hatte gar keine Überstunden geschoben. Jemand hatte ihn in seinem Büro überwältigt und sogar gefesselt. Und Amschwyler? Stand vor der Tür und hatte nichts unternommen. Er entschloss sich, das vorerst für sich zu behalten.

Stampfli war indes aufgesprungen und hatte Seidlers Praktikanten am Arm gepackt. „Junge, was erzählst du uns da? Das kann doch gar nicht wahr sein.“ Das Gesicht des Praktikanten sprach jedoch Bände. Seine Augen bewegten sich wild hin und her und seine Wangen hatten die Farbe der Wand angenommen. Schneeweiss. Stampfli entging das genauso wenig wie Amschwyler. Der Alte tauschte einen Blick mit seinem IT-Chef, liess den Jungen los und setzte sich in Bewegung.

In Seidlers Büro traute Amschwyler seinen Augen kaum. Er erkannte den Raum nicht wieder. Es sah aus, als sei ein Wirbelsturm hindurchgefegt. In der Ecke hinter der Tür lag Seidler. Gefesselt und geknebelt. Unter seinem Kopf eine Lache getrockneten Blutes. Seidler blickte zu ihnen auf, wimmerte durch den Knebel. Stampfli löste Fesseln und Knebel, half seinem Produktionsleiter auf die Beine. Amschwyler hob einen Stuhl auf, der mitten im Raum auf der Seite lag. Seidler setzte sich.

„Ihr Kopf sieht übel aus, Seidler. Amschwyler, rufen Sie einen Krankenwagen!“ Stampfli blickte sich suchend um, bedeutete Seidlers Praktikanten ein Glas Wasser zu holen. „Seidler!“, Stampfli versuchte nicht einmal, einfühlsam zu sein. „Was ist passiert? Wer hat Ihnen das angetan. Was hat der Angreifer gesucht?“ Jürg Seidler blickte Stampfli aus leeren Augen an. Aus seinem Mundwinkel rann seltsam wässriger Speichel. Amschwyler zog Stampfli ein Stück zur Seite. „Dr. Stampfli, ich glaube, Seidler hat es ziemlich übel erwischt. Wir sollten warten, bis der Notarzt hier ist.“ Stampfli knurrte, schien es aber einzusehen. Seidler sah nicht so aus, als würde er je wieder sprechen.

Vielleicht stand er aber nur unter Schock, dachte sich Amschwyler. „Lassen Sie uns einmal sehen, ob die Kameras im Gang den Eindringling aufgezeichnet haben.“ Amschwyler stellte Seidlers Schreibtischstuhl auf und startete den Rechner. Er rief die Aufnahmen vom Vorabend auf. Im Schnelldurchlauf liess er sich Haupteingang, die Gänge vor den Büros und den Parkplatz anzeigen. Nichts. Ab Viertel nach sechs zeigten die Aufnahmen nur noch leere Gänge. Keine Bewegung. In dem Wissen, dass er selbst etwa gegen 20.35 Uhr zu sehen sein würde, stoppte er bei 20.30 Uhr. Amschwyler spulte langsam zurück. Da, plötzlich eine huschende Bewegung um 20.23 Uhr. Amschwyler hielt die Aufnahme an, zoomte, hellte auf und seufzte. Er blickte Stampfli an. Stampfli blickte Amschwyler an. Beide blickten wieder auf den Bildschirm. Der Angreifer trug eine Maske. Unmöglich, ihn so zu identifizieren.

Amschwyler sah ausserdem, dass der Unbekannte Handschuhe trug. Fingerabdrücke würde die Polizei später also auch keine finden. Seidlers Praktikant kam mit dem Wasser und zwei Sanitätern im Schlepptau zurück ins Büro. Die Sanitäter versuchten, Seidler anzusprechen, doch er blickte noch immer mit leeren Augen vor sich hin. Gelegentlich gab er ein leises Wimmern von sich. Die Sanitäter bugsierten Seidler auf eine Trage und transportierten den Produktionsleiter ab. Stampfli verständigte die Polizei und wies Amschwyler an, die Videoaufzeichnungen für die Ermittler bereitzuhalten. Amschwyler fragte Stampfli, wie er denn nun bezüglich der Umstellung auf IPv6 vorgehen sollte. „Sie haben Nerven, Amschwyler. Seidler wird überfallen, aus Gründen, die wir nicht einmal erahnen können, und Sie wollen an irgendwelchen Netzwerkprotokollen herumdrehen.“ Stampfli schnaubte. „Wenn Sie glauben, dass es hilft, machen Sie einfach. Ich habe hier ein Verbrechen aufzuklären.“ Ja klar, dachte Amschwyler. Das Verbrechen würde die Polizei aufklären, nicht Stampfli. Der IT-Chef ging in sein Büro und machte sich an die Arbeit.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 7

Dr. Alfons Stampfli ist zurück

Amschwyler hatte keine andere Lösung gesehen, als Dr. Alfons Stampfli persönlich im Spital über Sylas’ Eskapaden zu informieren. Statt einen weiteren Herzinfarkt auszulösen, brachte das den Alten zurück ins Unternehmen. Dort angekommen, sollte Amschwyler Stampfli helfen, den angerichteten Schaden zu begrenzen. 

Auf der Fahrt ins Spital dachte Amschwyler lange darüber nach, wie er dem Alten beibringen sollte, was sein Sprössling angerichtet hatte. Er befürchtete, die Nachricht könnte einen weiteren Herzinfarkt auslösen. Doch während Amschwyler ihm dann mit leiser Stimme von den Geschehnissen berichtete, blieb Stampfli vollkommen ruhig. Als Amschwyler zu Ende erzählt hatte, riss sich Stampfli die Infusionsnadel aus dem Handrücken, zog sich den Mantel über, griff nach seinem Gehstock und deutete damit in Richtung Tür. Auf dem Weg in die Tiefgarage und während der Fahrt vom Spital zur Stampfli AG sagte er kein Wort. Amschwyler wunderte sich indes, dass niemand versucht hatte, Stampfli am Gehen zu hindern.

In Stanglisbiel angekommen blickte Stampfli auf sein steinernes Ebenbild. Er atmete schwer, stützte sich auf seinen Gehstock. Amschwyler stand einige Meter hinter ihm, liess Stampfli die Zeit, die er brauchte. Plötzlich erwachte Stampfli aus seiner Starre. Er machte zwei Schritte auf die Statue zu und versetzte ihr einen Schlag mit seinem Gehstock. Amschwyler wusste nicht, was er damit bezweckte. Aber vielleicht musste sich Stampfli vergewissern, dass sie wirklich vor ihm stand. Langsam drehte sich der Alte um. Seine Augen sprühten förmlich vor Zorn, sein linker Mundwinkel zuckte. Amschwyler erschrak. Die unzähligen Wutausbrüche, die allzu oft ihm persönlich gegolten hatten, hatten Amschwyler mit der Zeit abgehärtet. So hatte er seinen Chef aber noch nie erlebt. Amschwyler war froh, dass dieser Zorn nicht ihm galt. Zumindest hoffte er das.

„Wo ist er?“, presste der Alte zähneknirschend hervor. Gute Frage, dachte Amschwyler. Er hatte bereits Ausschau nach Sylas gehalten. Doch Autokran und Tieflader waren ebenso verschwunden wie Stampflis Wagen. „Ich weiss es nicht. Ich hatte damit gerechnet, dass wir Ihren Sohn hier antreffen würden“, entgegnete Amschwyler seinem Chef.

Stampflis Gesichtsfarbe begann, sich dem gewohnten Rot zu nähern. Amschwylers rechte Hand suchte instinktiv in der Hosentasche nach dem Handy, er bereitete sich vor, erneut den Notruf zu wählen. Doch dann ging ein Ruck durch den alten Mann und er sah plötzlich gar nicht mehr so alt aus. Er richtete sich auf, atmete zwei, drei Mal tief durch und wandte sich in Richtung Haupteingang. „Kommen Sie mit, Amschwyler. Ich kümmere mich später um meinen Sohn. Sie müssen mir helfen, den Schaden wieder gutzumachen. Ich wette, dieses …“, Stampfli blickte nochmal zurück, suchte nach dem passenden Wort, „… Ungetüm hat ein halbes Vermögen gekostet.“ Stampfli verzog angewidert das Gesicht und marschierte los. Bei jedem zweiten Schritt stiess sein Gehstock mit einem klackenden Geräusch auf dem Boden auf und gab so den Laufrhythmus vor. Amschwyler folgte ihm. Er war erstaunt, wie gut sich der Alte plötzlich beherrschen konnte. Amschwylers Hand entspannte sich, er liess das Handy wieder los.

In der Eingangshalle der Stampfli AG wartete die nächste Überraschung. Irgendjemand musste mitbekommen haben, dass Dr. Alfons Stampfli zurück war. Die gesamte Belegschaft hatte sich versammelt. Als Stampfli durch die Tür schritt, applaudierten sie ihm. Ihm, der selten in normaler Gesprächslautstärke zu ihnen gesprochen hatte, ihm, der weder ein Nein noch ein Vielleicht akzeptierte. Amschwyler staunte. Und so auch Stampfli. Das hatte der Alte ganz offensichtlich nicht erwartet. Er hob eine Hand, der Applaus verstummte. Sichtlich gerührt bedankte er sich. Stampfli liess seinen Blick schweifen, schaute jedem seiner Mitarbeiter einen Moment in die Augen. „Ich entschuldige mich bei Ihnen allen, dass ich Sie meinem Sohn ausgeliefert habe. Ich dachte, er sei bereit, sein Erbe anzutreten.“ Erneuter Blick in die Runde. Dann mehr zu sich selbst: „Offenbar habe ich mich geirrt.“

Er wisse noch nicht genau, welche Konsequenzen die Handlungen seines Sprösslings nach sich ziehen würden. Er wolle den Teufel nicht an die Wand malen, aber womöglich müsse er die eine oder andere Stelle streichen. Das werde sich in den nächsten Tagen zeigen. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Amschwyler hier“, Stampfli legte seinem IT-Chef die Hand auf die Schulter, „und ich werden eine Lösung finden, das versichere ich Ihnen!“

Na toll, dachte sich Amschwyler. Wieder war er es, der dran glauben musste. Andererseits war er nicht ganz unschuldig. Schliesslich hatte er Sylas vorgeschlagen, Teile der hausinternen IT auszulagern und so Kosten zu sparen. Ein Gutes hatte es aber. Er musste jetzt wenigstens keine Überzeugungsarbeit mehr leisten. Ausserdem wusste Amschwyler schon sehr genau, was und wie er es auslagern wollte.

Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte und alle wieder ihrer Arbeit nachgingen, sass Amschwyler nun in Stampflis Büro. „Also, Amschwyler, wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie unsere IT auslagern. Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“, fragte Stampfli. Amschwyler hielt es für eine sehr gute Idee. Sie würden nicht nur Kosten sparen, sondern auch effizienter arbeiten können. Das fange beim E-Mail-Verkehr der Mitarbeiter an. Immer wieder erhielt Amschwyler Beschwerden, wie umständlich der Zugriff auf E-Mails sei. „Wir betreiben immer noch einen eigenen Exchange-­Server. Als wir den damals eingerichtet haben, war das die beste Lösung. Heute gibt es aber Alternativen, die für uns mehr Sinn ergeben. Mein Vorschlag lautet Google-Mail. Die Verwaltung ist einfach, und die Mitarbeiter können von überall aus ohne grosse Umstände auf ihre Konten zugreifen.“ Stampfli nickte. „Aber was ist mit der Sicherheit? Google ist doch immer wieder in Verruf geraten, E-Mails mitzulesen. Mir gefällt es ausserdem nicht, von solch einem Unternehmen abhängig zu sein“, gab Stampfli zu bedenken. Amschwyler hatte mit diesem Einwand gerechnet. „Ich verstehe Ihre Bedenken, aber es ist die günstigste Variante. Was die Sicherheit betrifft … Letztlich sind wir ein Backbetrieb. Wir stellen Lebensmittel her, keine Waffen.“

Weiter wollte Amschwyler sämtliche Server, die sie inhouse betrieben, abschaffen. Sie hosteten ja sogar ihre Website selbst. Vollkommen unnötig. Lediglich die Rezeptdatenbank, Stampflis Heiligtum, sollte bleiben. Ein kleiner Server würde ausreichen, um die Rezepte zu verwalten und die Teigmaschinen anzusteuern. Für alles Weitere sollte ein Cloud-Anbieter herhalten. Und zwar einer, bei dem sie einfach die Kreditkarte durchziehen konnten und dann bekamen, was sie wollten. Amschwyler schlug Amazon vor. Stampfli sagte, ein US-Anbieter sei genug. Er bevorzuge einen Anbieter in der Schweiz. Schliesslich einigten sie sich auf einen deutschen Dienstleister. Ein Kompromiss, mit dem beiden leben konnten.

Doch Amschwyler hatte noch mehr vorbereitet. In der Buchhaltung nutzten sie aktuell eine lokale Lösung von Abacus. Da Amschwyler die Buchhaltung als unternehmenskritisch einstufte, schlug er Stampfli vor, bei einem Schweizer Anbieter mit Rechenzentrum in der Schweiz zu bleiben. Sie könnten zu Abacus’ Cloud-Variante wechseln. Alternativ biete sich auch eine Lösung von Swisscom an. Der Telko habe Angebote für KMUs bis 50 ­Mitarbeiter im Programm. Perfekt für die Stampfli AG. Die Entscheidung würde er Stampfli überlassen.

Amschwyler wollte ausserdem Lieferanten­bestellungen und andere Ausgaben in einer Cloud-Lösung zusammenführen. Da gebe es verschiedene Anbieter, die sich preislich nur kaum voneinander unterschieden. Stampfli unterbrach Amschwyler. „Warum wollen Sie uns so vielen verschiedenen Anbietern ausliefern? Wäre es nicht sinnvoller, alle Leistungen von einem zu beziehen?“ Auch mit diesem Einwand hatte Amschwyler gerechnet. Die Antwort gestaltete sich dennoch kompli­zierter.

„Ja und nein, Herr Dr. Stampfli. Für einen Anbieter, der alles abdeckt, spricht natürlich, dass wir leichter überblicken können, wo unsere Daten sind und welche Leistungen wir beziehen. Dagegen spricht, dass wenn es zu einem Problem mit diesem einen Anbieter kommt, wir alles zu einem anderen migrieren müssen. Verlassen wir uns hingegen auf verschiedene Anbieter, müssen wir im schlimmsten Fall immer nur einen Teil unserer Daten zügeln.“ Amschwyler hielt inne, suchte nach einem anschaulichen Beispiel. „Stellen Sie sich vor, wir stellen jemanden ein, der die Buchhaltung, die Lieferantenbestellungen, das Personalwesen und vielleicht noch das Marketing für uns übernimmt. Vorausgesetzt, ein einzelner Mensch könnte all diese Aufgaben in seiner Person vereinen, hätte er doch eine immense Verantwortung. Gleichzeitig wären wir vollkommen abhängig von ihm. Alle Kompetenzen lägen bei ihm. Würde er das Unternehmen verlassen, hätten wir ein ernstes Problem.“ Stampfli schien zu verstehen, worauf Amschwyler hinauswollte. Er griff nach seinem Gehstock und ging ans Fenster, blickte auf sein steinernes Ebenbild auf dem Vorplatz. Nach einigen Augenblicken drehte er sich wieder zu Amschwyler um. Es schien, als hätte er einen Entschluss gefasst.

„Also gut, Amschwyler. E-Mail zu Google, Rechenleistung nach Deutschland, Buchhaltung bleibt in der Schweiz. Die Sache mit den ­Ausgaben und den Lieferantenbestellungen möchte ich nochmals in Ruhe überdenken. Die Rezepte bleiben bei uns im Haus. Die will ich auf keinen Fall aus der Hand geben.“ Stampfli setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und griff nach dem Telefon. „Sie können alles Nötige in die Wege leiten. Ich möchte Sie zudem bitten, die Mitarbeiter über alles Nötige zu informieren. Ich kümmere mich jetzt um meinen Sohn und mein Alter Ego dort unten. Nicht auszudenken, was passiert, wenn unsere Kunden das sehen. Was hat der Junge sich bloss dabei gedacht?“ Stampfli begann zu wählen. Mit einem Nicken bedeutete er Amschwyler, zu gehen. Auf dem Weg in sein Büro fühlte sich Amschwyler erleichtert. Er konnte es selbst kaum glauben, aber es freute ihn, dass der Alte zurück war.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 6

Ein Denkmal für Dr. Alfons Stampfli

Der Herzinfarkt des alten Stampfli hatte Amschwyler die Möglichkeit gegeben, einen Vorstoss in Richtung Outsourcing zu wagen. Stampflis Sohn Sylas, der neue Geschäftsführer der Stampfli AG, war begeistert. Amschwyler sollte alles in die Wege leiten. Doch die Dinge entwickelten sich anders als erwartet.

Nicht immer entwickelt sich das Leben so, wie man es sich vorstellt. Besonders nicht für Urs Amschwlyer. Der hatte sich darauf gefreut, endlich die weniger wichtigen Teile und auch einige geschäftskritische Anwendungen der Stampfli-IT an Outsourcer auszulagern. Und Amschwyler war, seit er mit Sylas Stampfli über das Outsourcing gesprochen hatte, sehr fleissig gewesen. Er hatte verschiedene IT-Dienstleister auf Herz und Nieren geprüft, Offerten eingeholt und mit Branchenkollegen gesprochen. Dafür hatte er viel mehr Zeit investiert, als er eigentlich wollte. Die Schuld dafür traf Amschwyler jedoch nicht allein. Er und Stampfli junior hatten vereinbart, sich am Ende der Woche wieder zusammenzusetzen. Da es nicht dazu gekommen war, hatte sich Amschwyler zunächst intensiver mit dem Thema beschäftigt. Inzwischen lag ihr Gespräch aber gut zwei Wochen zurück, und der junge Stampfli war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte Sylas gesehen, seit er verkündet hatte, dass ihn sein Vater zum Geschäftsführer ernannt hatte. Amschwyler fragte sich, wie es weitergehen sollte. Er sorgte sich um die Zukunft des Unternehmens. Er entwickelte Zweifel an seinem Vorhaben und vor allem an den Führungsqualitäten seines neuen Chefs.

Amschwyler stand auf, nahm seinen Kaffee in die Hand und ging zum Fenster. Er hielt seine Nase über die Tasse, sog den Duft des Kaffees ein und blickte in die Ferne. Er seufzte. Sein Blick streifte die Zufahrtsstrasse zum Gelände der Stampfli AG. Was er dort sah, verwirrte ihn. Drei Fahrzeuge näherten sich dem Firmengelände. Das vorderste war unverkennbar der Wagen des alten Stampfli. Amschwyler konnte noch nicht erkennen, wer am Steuer sass. Ob der Herr Doktor wohl wieder auf den Beinen war? Er wusste nicht, wie es dem alten Stampfli ging. Seine Anrufe bei der Familie blieben unbeantwortet, und Stampflis Sekretärin stand wie immer auf Kriegsfuss mit Amschwyler. Sie sprach inzwischen gar nicht mehr mit ihm. Das höchste der Gefühle waren einsilbige E-Mails. Im letzten riet sie ihm, Herrn Stampfli im Spital zu besuchen, die Adresse lieferte sie gleich mit.  Amschwylers Aufmerksamkeit galt im Augenblick aber ohnehin mehr den beiden anderen Fahrzeugen. Ein Autokran und ein Tieflader, beladen mit einem in Kunststoffplanen eingewickelten Objekt. Was hatte das zu bedeuten?

Amschwyler schob seinen Schreibtischstuhl zum Fenster, machte es sich gemütlich und beobachtete das weitere Geschehen. Als der Tross auf das Firmengelände fuhr, erkannte Amschwyler Sylas am Steuer des Wagens. Sonst sass niemand im Fahrzeug. Sylas steuerte nicht seinen Parkplatz an, sondern fuhr bis direkt vor den Haupteingang. Der Autokran und der Tieflader folgten ihm. Dann hielt Sylas unvermittelt an, stieg aus und ging zum Führerhaus des Autokrans. Er wechselte einige Worte mit dem Fahrer und gestikulierte wild in verschiedene Richtungen.  Amschwylers Telefon begann zu schrillen. Er ignorierte es. Amschwyler hatte nicht bemerkt, dass Stampfli junior während des Gesprächs mit dem Fahrer sein Mobiltelefon gezückt hatte. Jetzt drehte sich Stampfli um, blickte genau in Amschwylers Richtung und wedelt mit dem Telefon. Amschwyler begriff. Er ging zum Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

„Amschwyler! Bewegen Sie Ihren Hintern hier herunter. Sie müssen das aus der Nähe sehen“, schallte Sylas’ Stimme aus der Hörmuschel. Er hatte den Satz noch nicht richtig beendet, als er schon wieder auflegte. Dabei hatte er ähnlich euphorisch geklungen wie damals, als er von seinen grossen Plänen für das Unternehmen schwärmte. Amschwyler ahnte nichts Gutes. Ihm war, als hätte Sylas zwei verschiedene Persönlichkeiten. Über das Outsourcing hatte er mit dem rational denkenden Sylas gesprochen. Der Sylas, der da vor seinen Augen zwischen Autokran und Tieflader hin und her sprang, hatte eher etwas von einem kleinen Jungen.

Amschwyler verliess sein Büro. Auf dem Gang traf er Jürg Seidler, den Produktionsleiter. „Guten Morgen Urs. Bisch zwäg?“, fragte Seidler mit einem schiefen Grinsen. Amschwyler blickte Seidler verständnislos an. Für gewöhnlich machte Seidler sich nichts aus Höflichkeitsfloskeln. „Ja, alles bestens, danke. Aber draussen passiert irgendetwas. Junior beehrt uns mal wieder mit seiner Anwesenheit und er hat schweres Gerät mitgebracht.“ Seidler blickte auf seine Uhr, zuckte mit den Schultern und ging einfach weiter. So viel zur Höflichkeit Seidlers. Amschwyler setzte sich wieder in Bewegung. Das ungute Gefühl blieb.

Unten angekommen traute Amschwyler seinen Augen kaum. Der Autokran hatte ein Stück abseits des Haupteingangs Stellung bezogen und damit begonnen, aufzustellen, was zuvor unter den Planen verborgen war: Eine gut vier Meter hohe Statue. Aber nicht irgendeine Statue. Nein, der Autokran stellte einen überlebensgrossen Dr. Alfons Stampfli auf, in Herrscherpose sitzend auf einem steinernen Thron.

Amschwyler fehlten die Worte. Stampflis Sohn musste von allen guten Geistern verlassen sein. Bevor Amschwyler etwas sagen oder sonst in irgendeiner Form reagieren konnte, kam Stampfli junior auf ihn zugerannt. Er strahlte bis über beide Ohren. „Was meinen Sie, Amschwyler? Ist sie nicht grossartig? Mein Vater wird begeistert sein“, sagte Sylas ganz ausser Atem. Sein Blick trübte sich plötztlich. „Das heisst, wenn er sein Bett je wieder verlassen wird. Es geht ihm nicht gut, Amschwyler. Der anfängliche Optimismus der Ärzte ist verflogen. Sein Herz hat offenbar doch mehr Schaden genommen, als anfänglich gedacht.“

Amschwyler blickte auf die Statue, die noch immer über ihnen am Kran hing. Trotz aller Demütigungen, die er über die Jahre hatte ertragen müssen, sorgte er sich um den alten Stampfli. Gleichzeitig wollte er den jungen Stampfli an den Schultern packen und so lange schütteln, bis er wieder zur Vernunft kam. Amschwyler entschied sich für ein hartes Durchgreifen, das wäre sicher im Sinne des Alten. Also ergriff er Sylas am Arm und zog ihn ein Stück auf die Seite, ausser Hörweite der Fahrer. In scharfem Ton nahm er den jungen Stampfli ins Verhör. „Was glauben Sie, hier zu tun? Seit zwei Wochen hat Sie niemand gesehen oder auch nur ein Sterbenswörtchen von Ihnen oder Ihrer Familie gehört. Wir alle sorgen uns um das Wohl Ihres Vaters, aber Sie haben die Verantwortung über das Unternehmen übernommen. Ist Ihnen das entgangen? So ein Betrieb führt sich nicht von allein.“ Amschwyler blickte Sylas in die Augen, wartete auf eine Reaktion. Der Junge, Amschwyler sah ihn immer mehr als Jungen, wirkte verstört. Er hielt Amschwylers Blick zwar stand, zeigte aber sonst keinerlei Regung. „Was soll das mit der Statue? Ich glaube kaum, dass wir ein Budget für Statuen haben“, fuhr der IT-Chef fort.

Amschwyler spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. In ihm begann es zu brodeln. Er versuchte, sich zu beruhigen, doch seine Wut wuchs und würde in Zorn umschlagen. Er fühlte sich verantwortlich für das Unternehmen, und dieser Bengel war drauf und dran, alles ins Chaos zu stürzen. Was würde er als Nächstes anstellen? Einen Palast errichten? Amschwyler musste dem ein Ende setzen. Andernfalls würden er und die restlichen 49 Mitarbeiter der Stampfli AG bald ohne Job dastehen. Bevor Amschwyler aber ein weiteres Wort sagen konnte, erlangte Stampfli junior die Sprache zurück.

„Amschwyler, Sie haben mir gesagt, dass wir durch die Auslagerung unserer IT eine Menge Geld sparen. Also habe ich dieses Geld in die Hand genommen und setze meinem Vater jetzt ein Denkmal. Akzeptieren Sie das, oder lassen Sie es bleiben!“ Amschwyler glaubte nicht, was er da hörte. Er hatte es tatsächlich mit einem kleinen Jungen zu tun. Noch dazu mit einem, der jeglichen Bezug zur Realität verloren haben musste. Er versuchte es ein letztes Mal mit Sachlichkeit. „Dieses Geld, Herr Stampfli, haben wir noch nicht gespart. Wir haben noch nichts ausgelagert. Wir beide wollten vor zwei Wochen das weitere Vorgehen besprechen. Sie sind stattdessen spurlos verschwunden. Bis wir tatsächlich Geld sparen, ist es noch ein weiter Weg. Was haben Sie während Ihres Studiums eigentlich gelernt?“ Amschwyler fühlte sich hilflos. Er war doch bloss der IT-Chef. Warum musste er sich mit alldem herumplagen? Er musste den alten Stampfli besuchen. Niemand sonst konnte diesem Wahnsinn ein Ende setzen. Amschwyler liess Stampfli junior stehen, holte seine Autoschlüssel und machte sich auf den Weg ins Spital. Das Outsourcing musste warten.

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Folge 5

Das Ende der Diktatur

Die Stampfli AG steht vor einer ungewissen Zukunft. Dr. Alfons Stampfli hat einen schweren gesundheitlichen Schlag erlitten und muss die Leitung des Unternehmens abgeben. Sein Sohn Sylas erhält die Chance, sich doch noch zu behaupten. Die Umstände scheinen ihn zur Vernunft gebracht zu haben.

Ohne Voranmeldung stiess Stampfli die Tür zu Amschwylers Büro mit so grosser Wucht auf, dass sie vom Türstopper am Boden zurückprallte und Stampfli beinahe ins Gesicht schlug. Er fing die Tür mit einer fast beiläufigen Handbewegung ab, ging an ihr vorbei und versetzte ihr im Gehen einen Tritt, der sie in Schloss krachen liess. Dann baute sich Stampfli vor Amschwyler auf. Noch während Amschwyler fieberhaft darüber nachdachte, was er verbrochen haben könnte, begann Stampfli aber zu wanken.

Statt der erwarteten Standpauke brachte er nur ein schwaches Krächzen hervor. Seine Lippen verfärbten sich bläulich. Sein anfangs hochroter Kopf verlor jegliche Farbe, er wurde leichenblass. Mit seiner rechten Hand griff er sich an die Brust auf der Höhe seines Herzens. Seine Gesichtszüge verhärteten sich vor Schmerz. Dann kippte Dr. Alfons Stampfli nach hinten. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Boden auf und löste damit Amschwyler aus seiner Starre. Amschwyler wählte die Nummer des Notrufs und eilte um seinen Schreibtisch herum zu seinem Chef. Während er dem Notruf meldete, was passiert war, überprüfte er, ob Stampfli noch atmete.

Das Ganze hatte nur wenige Augenblicke gedauert und doch kam es Amschwyler wie eine Ewigkeit vor, bis der Rettungsdienst in Stanglisbiel eintraf und seinen Chef ins Spital brachte. Als Amschwyler wieder allein in seinem Büro war, schloss er die Augen und wünschte sich an einen anderen Ort. Er versuchte, alles um sich herum auszublenden. Das gelegentliche Blubbern des Wasserspenders, das sanfte Rauschen der Klimaanlage, das Schrillen der Telefone in den angrenzenden Büros, das kaum wahrnehmbare Stampfen der Teigmaschinen in der drei Stockwerke unter ihm liegenden Backstube und die Erinnerung an seinen leichenblassen, am Boden liegenden Chef.

Am dritten Tag nach Stampflis Zusammenbruch sass Amschwyler in seinem Büro und wunderte sich, dass immer noch niemand im Betrieb etwas über Stampflis Zustand gehört hatte. Amschwyler wollte im Spital anrufen, wusste aber nicht in welchem. Bei den Stampflis Zuhause hatte er nur den Anrufbeantworter erreicht. Plötzlich klopfte es an seiner Tür. Stampflis Sohn Sylas. „Herzinfarkt“, sagte Sylas und blickte an Amschwyler vorbei ins Leere. „Sie sagen, dass er sich wieder erholen wird. Er hatte Glück. Wohl auch dank Ihnen. Sie haben schnell reagiert.“ Amschwyler nickte und fragte, wann Dr. Stampfli zurückkehren würde. Sylas’ Blick blieb noch einen Augenblick lang leer, dann erhellten sich seine Gesichtszüge und er grinste Amschwyler an. „Amschwyler, Sie halten mich jetzt womöglich für morbid, aber die gute Nachricht ist: Mein Vater wird so schnell nicht ins Unternehmen zurückkommen. Er hat mir die Leitung übertragen.“

Amschwyler schluckte. Er dachte an sein letztes Gespräch mit Sylas zurück. Es hatte sich um die grössenwahnsinnige Idee gedreht, aus der Stampfli AG einen IT-Dienstleister zu machen. Wenn Sylas nun freie Hand hatte … Stampfli junior liess Amschwyler keine Zeit, weiter da­rüber nachzudenken.

„Amschwyler, machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe eingesehen, dass meine Idee von einem Rechenzentrum realitätsfern war.“ Amschwyler entspannte sich. Sylas ging zum Fenster von Amschwylers Büro und blickte in die Ferne. „Ich möchte, dass wir eng zusammenarbeiten. Mein Vater vertraut Ihnen und ich will das auch. So tragisch die Geschichte auch sein mag, wir dürfen jetzt nicht stehenbleiben. Früher oder später hätte sich mein Vater ohnehin zurückgezogen.“  Amschwyler dachte nach. Solange Sylas das Unternehmen nicht mit voller Kraft gegen die nächste Wand steuern würde, hatte Stampflis Herzinfarkt durchaus etwas Gutes.

„Sie haben Recht, Herr Stampfli. Blicken wir nach vorn.“ Vielleicht konnte er seinen neuen Chef nun von den Vorteilen des ihm schon so lange unter den Nägel brennenden Outsourcings überzeugen. Denn trotz oder wohl eher wegen der Spielereien, die er für den alten Stampfli hatte umsetzen müssen, war die gesamte IT-Infrastruktur der Stampfli AG rasch gewachsen und nun viel komplexer, als für den Betrieb zuträglich. Amschwyler wagte den Vorstoss. „Ich würde gern einen Grossteil unserer IT auslagern. Das …“, Stampfli schnitt ihm das Wort ab. „Exzellente Idee Amschwyler! Aber was bringt uns das?“

Amschwyler fragte sich, was Sylas wohl während seines Studiums gelernt hatte. Als Wirtschaftsinformatiker sollte er doch wissen, welche Vor- und Nachteile die Auslagerung der IT mit sich bringt. „Eigentlich liegt das auf der Hand. Unsere IT-Abteilung, also meine beiden Team-Kollegen und ich werden entlastet. Wir müssen uns nicht mehr um den Betrieb der Infrastruktur, um Wartungsarbeiten oder das Management von neuer Software kümmern. Stattdessen können wir uns auf strategische IT-Aufgaben konzentrieren.“ Amschwyler hielt kurz inne. Strategische IT-Aufgaben? Er schmunzelte. Amschwyler konnte sich im Augenblick nicht vorstellen, was er damit eigentlich genau meinte. Aber es hörte sich auf jeden Fall gut an.

„Wir können vom Spezial-Know-how des IT-Dienstleisters profitieren. Unsere IT wäre immer aktuell, ohne dass wir neue Hardware anschaffen müssten. Das Ganze ist zudem skalierbar. Sollten wir also mehr Leistung oder mehr Speicherplatz benötigen, könnten wir das quasi auf Knopfdruck bestellen.“ Stampfli schien nachzudenken, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, bedeutete Amschwyler aber mit einer Handbewegung fortzufahren.

„Wir könnten also fixe Kosten in variable verwandeln. Keine Server, kein Serverraum, keine Hardware. Denken Sie nur schon an die Energieeinsparungen. Wir könnten die Kosten für unsere IT wesentlich klarer budgetieren und so das betriebswirtschaftliche Risiko minimieren.“ Amschwyler lehnte sich zurück und wartete auf eine Reaktion Stampflis. Dieser drehte sich wieder zum Fenster.

„Mir ­gefällt, wie Sie denken, Amschwyler. Weniger Ausgaben finde ich gut. Aber verkennen Sie nicht die Nachteile? Würden wir uns nicht in eine Abhängigkeit begeben? Verlieren wir nicht unser eigenes Know-how? Was ist mit dem Datenschutz?“ Er wandte sich wieder Amschwyler zu und blickte ihn durch­dringend an. „Und wenn Sie und Ihr Team nichts mehr zu tun haben, warum sollte ich dann nicht Sie oder ihre beiden Kollegen entlassen?“

Amschwyler staunte. Der junge Stampfli hatte mehr auf dem Kasten als er anfangs vermutet hatte. „Sie haben Recht. Das sind Punkte, die es zu bedenken gilt. Aber all das lässt sich vertraglich regeln. Service-Level-­Agreement ist hier das Stichwort. Bevor wir Leistungen in Anspruch nehmen, definieren wir genau, was wir brauchen und was wir dafür zahlen wollen. Laufzeiten und Fehlerquote, Kündigungs­recht, Datenschutz und Vertraulichkeit sind alles Aspekte, die wir da miteinbeziehen können beziehungsweise müssen. Über den Abbau von Stellen zu sprechen, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht. Aber ja, möglicherweise brauchen wir dann keine drei Personen mehr in der IT-Abteilung.“ Stampfli nickte nachdenklich.

„Also gut, mir scheint, Sie wissen, wovon Sie sprechen, Amschwyler. Ich werde mir selbst auch ein paar Gedanken dazu machen. Überlegen Sie sich in der Zwischenzeit schon mal, was wir auslagern könnten und vor allem wohin. ­Holen Sie bis Ende der Woche verschiedene Angebote ein und sprechen Sie mit jemandem, der bereits eigene Erfahrung mit Outsourcing gemacht hat.“ Mit diesen Worten verliess Stampfli Amschwylers Büro.

Amschwyler fühlte sich seltsam. Nein, er fühlte sich gut. Das Gespräch war auf Augenhöhe verlaufen. Etwas, das er vom alten Stampfli  her nicht kannte. Das gefiel ihm. Amschwyler hoffte, dass das so bleiben würde und machte sich an die Arbeit.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 4

Juniors grosse Stunde

Stampflis Sohn Sylas hat sein Studium abgeschlossen und soll nun in das Unternehmen einsteigen. Für Amschwyler scheint das zunächst ein Segen zu sein. Stampflis Junior könnte frischen Wind ins Unternehmen bringen. Doch der Wind entwickelt sich zu einem Sturm: Sylas will den Kaffee­gebäck-Produzenten Stampfli AG in einen IT-Dienstleister verwandeln. 

Ein Hauch von Vanille lag in der Luft. Dazu mischten sich die Düfte gemahlener Haselnüsse und gerösteter Kakaobohnen. Urs Amschwyler hatte eigentlich nicht viel übrig für die Zubereitung von Kaffeegebäck. Doch der Gang durch die Backstube der Stampfli AG liess ihn jedes Mal aufs Neue innehalten. Die Aromen, die ihm in die Nase stiegen, beschworen seine liebsten Kindheitserinnerungen herauf. Die Kombination aus Va­nille, Haselnüssen und Kakaobohnen erinnerte ihn ans Schoggi-Giessen mit seiner Grossmutter.

Während Amschwyler sich seiner persönlichen Reise in die Vergangenheit hingab, eilte Dr. Alfons Stampfli mit weit ausholenden Schritten durch die Backstube. Er hielt direkt auf Amschwyler zu. Seit in vielen Teilen des Firmengebäudes Kameras hingen, war es für Stampfli ein Leichtes, seine Mitarbeiter zu finden. Er hatte nicht ganz das bekommen, was er wollte. Doch Korridore, Büros und die Backstube glichen mit all ihren Überwachungskameras dem Tresorraum einer Bank. Hinter Stampfli ging mit dem gleichen energischen Schritt ein junger Mann. Sein Anzug sass wie angegossen. Ganz offensichtlich massgeschneidert. Seine Schuhe glänzten im Licht der Neonröhren, die von der Decke der Backstube hingen. Handgefertigte Budapester. Er sah aus, wie eine jüngere Version Stampflis. Doch nichts davon konnte Amschwyler sehen. Er hatte seine Augen geschlossen und stand einfach nur da.

“Aaaaamschwyler!”, schrie Stampfli lauter, als er hätte müssen. In der Backstube war es in etwa so laut wie in einem gut besuchten Restaurant. Im Restaurant hätte Stampflis Schrei sicherlich für Stille gesorgt. In der Backstube bewirkte er, dass Amschwyler zusammenzuckte und zwei Schritte rückwärts stolperte. “Ist das denn zu glauben? Was wird das hier? Schlafen Sie jetzt schon im Stehen?”, bedrängte Stampfli Amschwyler. Irritiert blickte Amschwyler zwischen seinem Chef und dessen jüngerer Version hin und her. Es musste einer von Stampflis Söhnen sein. Amschwyler hatte die beiden Sprösslinge seines Chefs schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen. Soviel er wusste, war der ältere für sein Masterstudium an eine Uni in Grossbritannien gegangen. Der jüngere hatte Archäologie und ­Geologie studiert und bereiste seither den afrikanischen Kontinent. Angesichts der Kleidung des jungen Stampflis schloss Amschwyler auf den Älteren. Anzug und Schuhe passten irgendwie nicht zu Amschwylers Bild eines Archäologen.

“Ich … äh, entschuldigen Sie bitte Herr …, ich meine Dr. Stampfli”, stammelte Amschwyler. “Der Duft in der Backstube …” Stampfli brachte Amschwyler mit einer Handbewegung zum Schweigen. “Ich will es gar nicht wissen, Amschwyler”, sagte Stampfli. “Wir haben Wichtigeres zu besprechen. Erinnern Sie sich an meinen Sohn Sylas? Er hat gerade seinen Master in Business Information Systems an der Middlesex University in England abgeschlossen. Er will sich jetzt hier im Unternehmen einbringen. Ich möchte, dass Sie sich seine Ideen anhören!” Sylas streckte Amschwyler seine Rechte entgegen. Amschwyler ergriff sie. “Herr Amschwyler, es freut mich, Sie wiederzusehen. Wie lange ist es her? Vier Jahre, fünf?” Sylas packte Amschwyler sanft an der Schulter und schob in Richtung des Ausgangs der Backstube. “Lassen Sie uns einen Kaffee trinken gehen. Dann erzählen Sie mir vom Duft der Backstube, der Sie vorhin so bewegt hat.” Un­sicher blickte Amschwyler zu seinem Chef. Doch Stampfli senior hatte ihnen bereits den Rücken zugekehrt und sich in die entgegengesetzte Richtung entfernt.

Auf dem Weg zur kleinen Cafeteria der Stampfli AG sprach Sylas ununterbrochen. Statt nach dem Duft der Backstube zu fragen, erzählte er Amschwyler von seinem Studium und schilderte seine Erfahrungen mit britischen Studentinnen. Die Selbstverliebtheit liegt wohl in der Familie, dachte sich Amschwyler. Doch als sie in der Cafeteria ankamen, wechselte Stampfli junior das Thema. “Ich erzähle schon wieder nur noch von mir. Lassen Sie uns über Sie sprechen. Mein Vater ist schwer beeindruckt von Ihnen. Und ich bin es auch. Sie wissen, was Sie tun. Das gefällt mir!” Die Worte klangen aufrichtig. Nach all den Jahren in Stampflis Diensten wusste er natürlich, dass ihn der Alte zumindest respektierte. Offen zugeben würde das Stampfli Amschwyler gegenüber aber nie. Doch Amschwyler war misstrauisch. Irgendetwas sagte ihm, dass sich der junge Stampfli bloss bei ihm einschmeicheln wollte. “Ich mache doch nur meinen Job”, entgegnete Amschwyler deshalb. Sylas schüttelte den Kopf.

“Sie sind zu bescheiden, mein Lieber. Sie und ich werden hier Grosses vollbringen. Mein Weitblick gepaart mit Ihrer Kompetenz. Oh, das wird fantastisch, sage ich Ihnen.” Sylas geriet ins Schwärmen. Er sprach von einem besseren Morgen. Von einer Zukunft, in der alles möglich sei. Die Stampfli AG werde sich ­erheben wie der Phönix aus der Asche. ­Amschwyler musste grinsen. Sylas war vielleicht nicht so voller Herrschsucht wie sein Vater, doch er teilte mit ihm den Hang zum Grössenwahn. “Was genau schwebt Ihnen denn vor, Herr Stampfli? Wir produzieren hier Kaffeegebäck. Sollten Sie nicht lieber mit dem Verantwort­lichen für die Produkt­entwicklung sprechen?”, fragte Amsch­wyler.

Sylas lachte. “Sehen Sie, Herr Amschwyler, Sie hätten Recht, wenn ich in so kleinen Dimensionen denken würde wie mein Vater. Wir müssen aber über den Tellerrand hinausschauen. Mit dem Backbetrieb holen wir doch nichts. Ich will neue Märkte erschliessen.” Die Augen des jungen Stampfli begannen zu leuchten. Mit der Aufregung eines kleinen Jungen erzählte er von seiner Vision. “Ich sehe ein Rechenzentrum vor mir. So grün wie die Wiese, auf dem es steht. Der Strom stammt aus erneuerbaren Energien. Zur Kühlung speisen wir es mit Tiefenwasser des Stanglisbieler Sees. Wir bieten Colocation-Services und bei Bedarf Komplettangebote für die Unternehmen in der Region. Sehen Sie nicht, wie grossartig das sein wird?”

Amschwyler fragte sich, ob Stampfli junior ernsthaft meinte, was er da von sich gab. Er schien sich nicht im Klaren zu sein, was es bedeuten würde, ein Rechenzentrum aus dem Nichts aufzubauen. Die Stampfli AG würde das finanziell niemals stemmen können. Das Unternehmen stand gut da, doch die Summe, die der Bau des Rechenzentrums kosten würde, läge weit über dem Jahresumsatz. Und was sollte überhaupt die Idee mit dem Seewasser? Das kam Amschwyler so seltsam bekannt vor. “Was meint denn Ihr werter Herr Vater zu Ihrer Vision?”, fragte Amschwyler vorsichtig. Sylas ignorierte Amschwylers Frage. Er sprach einfach weiter über die vielen Möglichkeiten, die sich mit dem Rechenzentrum böten. Sie könnten ja auch zum Webhoster avancieren und Cloud-Services anbieten. Amschwyler lehnte sich zurück. Dem Jungen fehlte ganz offensichtlich jeglicher Bezug zur Realität.

Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum ihm die Idee von der Seewasserkühlung so bekannt vorkam. Im vergangenen Jahr wollte ein neugegründetes Unternehmen ein Rechenzentrum am Walensee errichten. Die Vision deckte sich ziemlich genau mit der des jungen Stampfli. Das Projekt war noch vor dem ersten Spatenstich gescheitert. Scherereien mit dem Namen des Unternehmens, Umweltbedenken und allen voran Finanzierungsprobleme verwandelten den Traum zum Albtraum.

“Ich will nicht unhöflich sein, Herr Stampfli. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie jetzt nach Ihrem Studium voller Tatendrang sind. Aber ich glaube nicht, dass die Zukunft der Stampfli AG in einem Rechenzentrum liegt.” Sylas blieb einen Augenblick lang still. Dann erhellten sich seine Züge. “Sie haben vollkommen Recht. Ein Rechenzentrum ist viel zu wenig. Wir müssen grösser denken.” Amschwyler schüttelte den Kopf. Er überlegte, ob er Stampfli junior erklären sollte, was es bedeuten würde, ein Rechenzentrum aufzubauen. Was es allein kosten würde, die Leitungen für die Stromversorgung legen zu lassen. Was es kosten würde, das Gebäude zu errichten. Wie schwierig es werden würde, Kunden zu gewinnen. Welche Verantwortung auf ihnen lasten würde, wenn sie die Server und Daten anderer Unternehmen schützen mussten. Würde der Junge überhaupt zuhören? Amschwyler bezweifelte es.

Während Stampfli junior weiter von seinem Traum erzählte und Amschwyler nach einer Möglichkeit suchte, dem Ganzen zu entkommen, erschien Stampfli senior in der Cafeteria. Sein Blick wanderte suchend durch den Raum. Dann entdeckte er sie und steuerte ihren Tisch an. “So, was meinen Sie Amschwyler? Hat der Junge ein paar brauchbare Ideen?”, fragte er. Amschwyler suchte in Stampflis Zügen nach einem Anzeichen für Sar­kasmus. Doch seine Miene verriet nichts dergleichen. Er war so ernst wie immer. “Ich weiss nicht, was Ihnen Ihr Sohn erzählt hat. Aber – entschuldigen Sie bitte meine Kritik – die Idee von einem Rechenzentrum und der Stampfli AG als IT-Unternehmen halte ich für fernab der Realität. Ich hatte Ihnen eigentlich vorschlagen wollen, aus Kostengründen unser jetziges internes Rechenzentrum in ein externes auszulagern. Eines, das nicht uns gehört. Was Ihr Sohn hier im Sinn hat, übersteigt meines Erachtens nach unsere Möglichkeiten bei weitem.”

Der alte Stampfli brummte etwas Unverständliches. Dann blickte er abwechselnd zwischen seinem Sohn und Amschwyler hin und her. “Was glauben Sie denn, würde der Bau eines Rechenzentrums kosten?”, fragte Stampfli nach einem Augenblick des Schweigens. Amschwyler konnte es kaum glauben. Stand sein Chef allen Ernstes hinter der Idee seines Sohnes? “Das ist schwer zu sagen, Herr Dr. Stampfli. Je nach Grösse und Ausstattung des Zentrums bewegen wir uns schnell im zweistelligen Millionenbereich, meine ich.” Stampfli sog hörbar Luft ein. “Sylas, deine Idee ist vom Tisch!”

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 3

„Ich will die totale Überwachung“

Eine ganze Woche hat sich der Chef der Stampfli AG nicht mehr im Betrieb blicken lassen. Doch nun ist Dr. Alfons Stampfli zurück. Um zu verhindern, dass sich sein Malheur wiederholt, soll Amschwyler ein Videoüberwachungssystem installieren. Stampfli vergisst dabei die gesetzlichen Grundlagen. Amschwyler nicht.

Amschwyler hatte schon damit gerechnet, dass Stampfli infolge seiner selbstverschuldeten Demütigung eine Weile nicht mehr in Stanglisbiel auftauchen würde. Dass Stampfli, der einen infizierten USB-Stick auf dem Parkplatz fand und diesen an seinen Rechner anschloss, eine ganze Woche brauchen würde, um über seinen Fehltritt hinwegzukommen, hatte Amschwyler zunächst verwundert. Der Grund für Stampflis langes Fernbleiben wurde Amschwyler jedoch schnell klar. Denn obwohl Amschwyler es vermieden hatte, Stampflis dummen Fehler an die grosse Glocke zu hängen, war das Ganze ans Licht gekommen – und schlimmer noch, hatte Stampfli davon erfahren, dass hinter seinem Rücken über ihn gelacht wurde. Vermutlich war es Stampflis Sekretärin. Das doppelzüngige Biest hatte sicher erst allen erzählt, was passiert war, und danach Stampfli davon berichtet, dass er sich zum Gespött seiner Mitarbeiter gemacht hatte, dachte sich Amschwyler.Andererseits war es Amschwyler mehr als recht, wenn er Stampfli nach dessen unglaublicher Aktion eine Weile nicht ertragen musste. Diese Auszeit hatte nun aber ein Ende. Kurz bevor Amschwyler sein Büro am Freitagabend verliess, bekam er eine sehr knapp formulierte E-Mail von Stampfli. Darin entschuldigte sich Stampfli einsilbig für seine Absenz und kündigte seine Rückkehr für Montag an. Es gebe eine dringende Angelegenheit zu besprechen. Amschwyler versuchte gar nicht erst, darüber nachzudenken, was für eine Angelegenheit das sein könnte. Er würde es ja früh genug erfahren.

Als Amschwyler am Montagmorgen auf den Firmenparkplatz der Stampfli AG fuhr, stand der Wagen seines Chefs schon dort. Die erste Drohung hatte Stampfli also wahr gemacht. Er traute sich wieder unter die Augen seiner Mitarbeiter. Angetrieben von einem schwachen Anflug von Neugier, ging Amschwyler deshalb direkt zu Stampfli.

„Amschwyler! Da sind Sie ja endlich“, begrüsste ihn Stampfli forsch. Amschwyler blickte auf seine Uhr. Viertel vor acht. Er war 15 Minuten zu früh am Arbeitsplatz, und doch wollte der alte Stampfli ihm schon wieder ein schlechtes Gewissen einreden. Stampfli schien seine Schmach tatsächlich überwunden zu haben. „Guten Morgen Herr Dr. Stampfli. Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich gut erholt?“, erkundigte sich Amschwyler und konnte ein Grinsen dabei nicht ganz unterdrücken. „Was grinsen Sie da in sich hinein, Amschwyler?“ Stampflis Stimme bewegte sich schon wieder nahe an der Grenze zum Schreien. „Ich glaube, hier ist in der letzten Woche mehr als genug gelacht worden. Sie haben wohl noch nie einen Fehler gemacht, wie?“Amschwyler zog es vor, die Frage unbeantwortet zu lassen. „Das dachte ich mir“, kommentierte Stampfli Amschwylers Schweigen und fuhr etwas ruhiger fort. „Kommen wir zum Punkt. Ich will verhindern, dass sich das Malheur von letzter Woche wiederholt. Ich will die totale Überwachung, Amschwyler. Jeder Winkel meiner Firma soll mit Kameras bestückt werden. Und alle Bilder will ich hier auf meinem Bildschirm und am besten auch auf meinem iPad einsehen können.“

Die Idee mit der umfassenden Videoüberwachung war Amschwyler nach dem Zwischenfall der vergangenen Woche auch in den Sinn gekommen. Er hatte versucht, herauszufinden, wer den USB-Stick mit der Schadsoftware platziert haben könnte. Mit der Hilfe eines alten Studienkollegen hatte Amschwyler die Software Stück für Stück zerlegt. Doch ihre Arbeit war nicht von Erfolg gekrönt. Urheber und das genaue Motiv der Aktion blieben ein Mysterium. Sollte es zu einem erneuten Versuch kommen, die Produktion der Stampfli AG lahmzulegen oder gar Daten zu entwenden, wollte Amschwyler gewappnet sein. Mit einem Videoüberwachungssystem könnten sie zumindest einem physischen Eindringling auf die Schliche kommen. Hätte Stampfli das Thema nicht selbst angeschnitten, hätte es Amschwyler selbst zur Sprache gebracht.

„Technisch gesehen sollte die Videoüberwachung in dem Umfang, wie Sie sich das vorzustellen scheinen, kein allzu grosses Problem darstellen. Durch unsere jüngsten Investitionen in die Netzwerkinfrastruktur fehlen uns im Prinzip nur die IP-Kameras, Netzwerk­rekorder und die entsprechende Software. Keine grosse Sache, glaube ich. Ab…“ Noch bevor Amschwyler das Wort „aber“ zu Ende sprechen konnte, schlug Stampfli mit der flachen Hand auf den Tisch. „Grossartig, Amschwyler! Worauf warten Sie noch?“

Amschwyler ermahnte sich, das Wort „aber“ aus seinem Wortschatz zu verbannen. Wann immer er es in Stampflis Gegenwart gebrauchte, explodierte dieser augenblicklich, ignorierte es vollkommen oder verlor jegliches Interesse am Gespräch. „Ich fürchte, Sie freuen sich etwas zu früh. Die Technik ist in diesem Fall ausnahmsweise nicht das Problem. Die gesetzlichen Bestimmungen sind es.“

„Was soll das heissen, Amschwyler? Ich kann doch auf meinem Grund und Boden tun und lassen, was ich will! Und überhaupt, seit wann wissen Sie etwas von gesetzlichen Bestimmungen?“ Amschwyler seufzte. Es waren kaum mehr als zehn Minuten vergangen, seitdem er seinen Chef nach gut einer Woche wieder zu Gesicht bekommen hatte. Zehn Minuten, die Amschwyler an den Rand der Verzweiflung brachten. Für alles musste er sich vor Stampfli rechtfertigen. Selbst oder wohl gerade dann, wenn er mehr wusste als sein Chef.

„Sie vergessen, Herr Dr. Stampfli, dass Sie auf Ihrem Grund und Boden Mitarbeiter beschäftigen. Die Vorgaben vom Gesetzgeber zum Thema Videoüberwachung am Arbeitsplatz sind ziemlich eindeutig. Ich glaube, Ihre Idee von der ‚totalen Überwachung‘ können Sie sich aus dem Kopf schlagen.“ Amschwyler beobachtete Stampfli ganz genau, bevor er fortfuhr. Die Gesichtsfarbe seines Chefs begann sich bereits in Richtung rot zu verfärben, und an der Stirn zeichnete sich schwach eine pulsierende Ader ab. Jetzt war Vorsicht geboten.

„Das Verhalten von Personen darf nicht überwacht werden. Ausserdem gilt das Mitspracherecht der Mitarbeiter vor dem Einsatz einer Videoüberwachungsanlage. Andernfalls haben Sie ganz schnell eine Gewerksch…“ Amschwyler konnte den Satz nicht beenden. Stampfli war aufgesprungen, hatte seinen Schreibtischstuhl dabei umgeworfen und sog hörbar Luft ein. „Wagen Sie es bloss nicht, dieses Wort in meiner Gegenwart auszusprechen“, zischte er. „Wenn es etwas gibt, das ich abgrundtief verabscheue, dann sind das Arbeitnehmer, die sich gegen ihre Arbeitgeber zusammenrotten. Was haben diese Leute nicht verstanden? Die beiden Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer implizieren doch mehr als deutlich, wie das Ganze funktioniert.“ Stampfli schnaubte, stellte seinen Bürostuhl wieder auf und setzte sich. Er zwang sich sichtbar um Haltung. Eine ganz neue Seite an Stampfli, dachte sich Amschwyler.

Was denn nach Schweizer Recht in Sachen Videoüberwachung möglich sei, fragte Stampfli, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. Amschwyler erklärte, dass der Arbeitgeber nach Artikel 328 des Schweizer Obligationenrechts gehalten sei, die Gesundheit und die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu schützen. Im Zusammenhang mit der Überwachung bedeute dies, dass Überwachungssysteme, die das Verhalten einer Person überwachen sollen, nicht eingesetzt werden dürfen. Wenn die Überwachung aus anderen Gründen erforderlich sei, müssen die Überwachungssysteme gemäss Artikel 26 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz so gestaltet und angeordnet werden, dass sie die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer dadurch nicht beeinträchtigen.

Grundsätzlich gelte, dass eine Verletzung der Persönlichkeit widerrechtlich sei, sofern sie nicht durch Einwilligung des Betroffenen, durch überwiegendes privates oder öffentliches Interesse gerechtfertigt sei. Stampflis linkes Auge begann nervös zu zucken. Amschwyler hatte diesen Tick schon früher bemerkt. Das Zucken verhiess meist nichts Gutes. Fieberhaft überlegte er, wie er seinen Chef beruhigen könnte. Auf der Seite des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten hatte doch noch mehr gestanden. Plötzlich fiel es ihm wieder ein.

„Bevor Sie nun auch noch den Bund verteufeln wollen … Es gibt eine Möglichkeit, wie Sie ihre Kameras doch noch bekommen könnten. Der Bund empfiehlt den Einsatz von sogenannten ‹Privacy Filters›. Das ist eine Softwarelösung, die gefilmte Gesichter in Echtzeit verschlüsselt und so die Privatsphäre garantieren soll. Falls Aufnahmen im Falle einer strafrechtlichen Verfolgung zur Täteridentifizierung benötigt werden, können die Aufnahmen entschlüsselt werden“, Stampflis Gesichtszüge erhellten sich wieder ein wenig und das Zucken verlor an Intensität. „Trotzdem werden Sie nicht umhinkommen, sämtliche betroffenen Mitarbeiter zum Thema zu befragen.“ Stampfli knirschte mit den Zähnen. „Wie sollen wir vorgehen, Amschwyler?“ Noch eine neue Seite. Stampfli fragte ihn – Amschwyler – um Rat.

„Ich schlage vor, dass Sie sich überlegen, wie Sie die ganze Geschichte den Mitarbeitern schmackhaft machen, und ich hole Offerten für die Installation des Überwachungssystems ein. Und wenn Sie ganz sichergehen wollen, dass alles nach Recht und Ordnung verläuft, nehmen Sie mit dem Datenschutzbeauftragten des Bundes Kontakt auf.“ Wirklich zu gefallen schien Stampfli dieser Vorschlag nicht. Aber Stampfli hatte ja auch geglaubt, dass er nur darauf warten musste, dass die Bilder der Kameras auf seinem Bildschirm erschienen. Nun sollte er, der durch sein eigenes Verschulden zum Gespött seiner Mitarbeiter geworden war, genau vor jene treten und ihnen verkünden, dass er sie künftig überwachen wolle. Der Gedanke amüsierte Amschwyler.

Er fragte seinen Chef, ob er sonst noch etwas für ihn tun könne. Stampfli brummte irgendetwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. Daraufhin verliess Amschwyler gut gelaunt das Büro seines Chefs. Stampfli würde eine Weile an seiner Aufgabe zu kauen haben, und Amschwyler konnte sich auf Einkaufstour begeben. Kameras interessierten ihn zwar nicht so sehr wie andere Hardware, aber für den Augenblick war ihm das egal.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 2

Der Cantuccini-Zwischenfall

Die Umsetzung der BYOD-Strategie bei der Stampfli AG ist reibungslos verlaufen. Seither liess Dr. Alfons Stampfli ­seinen IT-Chef Urs Amschwyler auch weitgehend in Ruhe. Als jedoch die Teigmaschinen nicht mehr auf die Rezeptdatenbank zugreifen konnten, war es vorbei mit der Idylle in Amschwylers Welt. Der Grund: Das Firmennetzwerk war gehackt worden.

Das Schrillen des Weckers liess Urs Amschwyler aus dem Schlaf hochschrecken. Bilder eines wirren Traums drängten sich in sein Bewusstsein. Im Traum war er auf dem Weg zu Dr. Alfons Stampflis Büro, als dieser ihn unverhofft auf dem Handy anrief. Es sei ihm egal, was die Umsetzung der BYOD-Strategie kosten würde, hatte Stampfli ihm gesagt. Doch das war nicht nur in Amschwylers Traum passiert. Das Telefonat mit Stampfli hatte tatsächlich stattgefunden und lag schon gut einen Monat zurück. Immer mehr Mitarbeiter nutzten seither Tablets, Smartphones und private Notebooks geschäftlich und innerhalb festgelegter Regeln. Amschwyler verscheuchte die Gedanken und die Frage, warum ihm das immer noch keine Ruhe liess, stand auf und machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitsort  in Stanglisbiel.

Kaum war Amschwyler an seinem Arbeitsplatz eingetroffen, stürmte Jürg Seidler, der Produktionsleiter der Kaffee­gebäck-Produzentin Stampfli AG, in Amschwylers Büro. „Urs, wir haben ein Problem!“, begann Seidler ohne Begrüssung und etwas ausser Atem. Offenbar war er den Weg von der „Backstube“bis zu Amschwylers Büro gerannt. Seidler wirkte besorgt. „Guten Morgen Jürg! Was für ein Problem denn?“, fragte Amschwyler.

„Die Steuerungssoftware der Teigproduktion hat keinen Zugriff mehr auf die Rezeptdatenbank. So weit ich das beurteilen kann, ist es aber kein Netzwerkproblem“, fuhr Seidler fort, ohne von Amschwylers „Guten Morgen“Notiz zu nehmen. Amschwyler schwante nichts Gutes. Doch noch bevor sich die Ahnung zu einem klaren Gedanken entwickeln konnte, entgegnete Amschwyler verärgert über Seidlers nicht vorhandenen Sinn für Höflichkeit, dass dieser die Beurteilung lieber ihm überlassen sollte. Er werde sich der Sache annehmen und Seidler informieren, sobald das Problem behoben sei.  Nachdem Seidler unbeeindruckt von Amschwylers Groll das Büro verlassen hatte, loggte sich der IT-Chef in die Rezeptdatenbank ein. Er versuchte, das erstbeste Rezept zu öffnen. Auf Amschwylers Bildschirm erschien die Aufforderung ein Passwort einzugeben. Er stutzte. Seidler hatte Recht. Aber eigentlich war das unmöglich. Nach dem Einloggen war keine weitere Authentifizierung nötig. Wozu auch. Sie produzierten Kaffeegebäck, keine gefährlichen Chemikalien oder sonstige brisanten Substanzen. Doch das Passwort war noch nicht alles. Unter dem Eingabefeld wurde knapp erklärt, wie man an das Passwort gelangen könne, inklusive Zahlungsmöglichkeiten.

Während Amschwyler verständnislos den Bildschirm anstarrte, schaffte es die anfängliche Ahnung aus seinem Unterbewusstsein, zu einem Gedanken zu reifen. Amschwyler erinnerte sich an einen Fachartikel zum Thema IT-Sicherheit und Datendiebstahl, den er kürzlich gelesen hatte. Dort wurde ein ganz ähnliches Szenario beschrieben. Daten innerhalb eines Firmennetzes waren plötzlich verschlüsselt, ohne dass sich jemand einen Reim darauf machen konnte. „Ransomware“hatte es der Autor in dem Artikel genannt. Denn um wieder Zugriff auf die Daten zu erhalten, sollten die Betroffenen ein Lösegeld an den Urheber der Schadsoftware zahlen.

War das jetzt so ein Fall? Es sah ganz danach aus. Es waren zwar offenbar nur die Rezeptdatenbank und nicht das ganze System betroffen, aber die Erklärung mit den Zahlungsmöglichkeiten war eindeutig. Amschwyler überlegte. Eine Lösegeldzahlung stand ausser Frage. Die einfachste Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, war eine Backup-Wiederherstellung. Eine frühere Version der Datenbank sollte zumindest das akute Zugriffsproblem lösen. Auf diese Weise würde er aber möglicherweise nicht zurückverfolgen können, wo und wie sich die Schadsoftware Zugang verschafft hatte.

Die Backup-Wiederherstellung musste warten, entschied Amschwyler. Zuerst wollte er klären, wie es der Eindringling an der Firewall und dem Antivirenschutz vorbeigeschafft hatte. Er rief das Zugriffslogfile der Datenbank auf. Die Liste zeigte zwischen dem Vortag und heute drei Zugriffe an. Sein eigener stand an erster Stelle. Der nächste Eintrag hatte keine persönliche Nutzerkennung, sondern stammte von der Steuerungssoftware der Teigmaschinen. Interessant wurde es beim dritten Eintrag. Der Zugriff war kurz nach Mitternacht erfolgt. Mit Stampflis Benutzerkennung. Amschwyler las noch einmal. Der Eintrag änderte sich nicht. Stampfli hatte sich um 00:06 Uhr eingeloggt. Noch während Amschwyler rätselte, was sein Chef mit der ganzen Geschichte zu tun haben könnte, klingelte sein Telefon. Stampfli. Amschwyler liess es noch ein paar Mal klingeln und nahm schliesslich ab. „Aaaamschwyler!“,brüllte Stampfli so laut, dass der Lautsprecher im Telefon knisterte. „Was zur Hölle ist los? Seidler war gerade bei mir. Er erzählte mir etwas von Zugriffsproblemen. Die Produktion steht still. Warum?“

Amschwyler bemühte sich, ruhig zu bleiben und sich nicht von Stampflis Rage anstecken zu lassen. „Nun, Herr Dr. Stampfli, ich arbeite bereits an dem Problem. Derzeit deutet einiges darauf hin, dass unsere Rezeptdatenbank manipuliert wurde. Ich habe bereits eine Theorie, muss sie aber noch verifizieren. Ich schlage vor, ich komme gleichzu Ihnen. Dann besprechen wir das weitere Vorgehen“, sagte Amschwyler und wartete gespannt auf Stampflis Reaktion. Dieser zog hörbar Luft ein, grummelte aber schliesslich etwas, das entfernt nach „Beeilen Sie sich, heute ist Cantuccini-Tag“klang und legte auf. Die Cantuccini waren Stampflis persönliches Lieblingsgebäck und ein Verkaufsschlager der Stamfpli AG. Fatal also, wenn die Produktion ausgerechnet an diesem Tag stillstand.

Amschwyler überprüfte, was Stampfli bei seinem nächtlichen Zugriff angestellt hatte. Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass Stampfli nicht oder zumindest nicht direkt verantwortlich für die Misere war. Mittels Stampflis Benutzerauthentifizierung war ein Verschlüsselungsalgorithmus in der Datenbank installiert worden. Etwas, das Stampfli vermutlich nicht einmal unter Amschwylers Anleitung zustande gebracht hätte. Stampflis Rechner musste mit einem schädlichen Programm infiziert sein. Er prüfte das Bootlog von Stampflis Workstation. Stampfli hatte das Gerät am Vortag um 19:00 Uhr heruntergefahren. Punkt 00:00 Uhr hatte sich der Rechner wieder eingeschaltet und dann eine Verbindung zur Rezeptdatenbank hergestellt.

Das passte zum Log der Datenbank. Ausgangspunkt war also ganz eindeutig Stampflis Arbeitsplatz. Blieb die Frage, wie die Schadsoftware auf Stampflis Rechner gelangt war. Amschwyler würde Stampfli damit konfrontieren müssen. Im graute es nur schon bei dem Gedanken daran, aber er sah keine Alternative. Bevor er sich auf den Weg zu Stampflis Büro machte, startete Amschwyler die Wiederherstellung des Datenbank-Backups. Mit etwas Glück würde die Produktion in einer halben Stunde wieder anlaufen.

Vor Stampflis Büro hielt Amschwyler kurz inne. Wenn Stampfli erst begriff, dass er selbst zumindest eine Teilverantwortung für den Zwischenfall trug, würde es richtig ungemütlich werden. Amschwyler holte tief Luft und klopfte an die Bürotür. „Nun kommen Sie schon rein, Amschwyler“, rief Stampfli durch die geschlossene Tür. Amschwyler trat ein. Auch wenn es unangenehm werden würde, war er gespannt, wie Stampfli reagieren würde. „Dr. Stampfli, ich habe eine gute und eine weniger gute Nachricht. Die Gute ist, dass ich das Problem gefunden habe und vermutlich auch lösen kann. Im Augenblick läuft die Wiederherstellung vom Backup. Ich bin mir fast sicher, dass danach alles wieder funktionieren wird. Die weniger gute Nachricht ist, dass sich der Auslöser für das Problem auf Ihrem Rechner befindet.“Stampfli wurde weiss im Gesicht. Kein Wutausbruch. Damit hatte Amschwyler nicht gerechnet.

Stampfli wusste anscheinend, dass er einen Fehler begangen hatte. „Wie …, wie …, äh, wie meinen Sie das Amschwyler?“, sagte Stampfli so leise, dass ihn Amschwyler fast nicht hören konnte. „Ganz einfach. Ihr Rechner ist mit einer Schadsoftware infiziert. Wir müssen jetzt herausfinden, wie das passieren konnte, und das Gerät dann säubern. Ihrer blassen Gesichtsfarbe nach zu urteilen, haben Sie bereits eine Ahnung, woher die Schadsoftware stammen könnte?“fragte Amschwyler selbstsicher. Stampfli schwieg. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Nun ja … Möglicherweise ist mir da ein kleines Missgeschick passiert“, sagte Stampfli schliesslich mit immer noch ungewohnt leiser Stimme. „Ich habe gestern Morgen auf meinem Parkplatz einen USB-Stick gefunden. Zunächst dachte ich mir nichts weiter dabei und wollte ihn eigentlich liegen lassen. Aber irgendwie war ich dann doch ein wenig neugierig. Also habe ich ihn aufgehoben und mit in mein Büro genommen. Was danach passierte, können Sie sich denken. Wie schlimm ist es?“

Amschwyler konnte es nicht fassen. Er traute seinem Chef so manche Dummheit zu, aber das ging entschieden zu weit. Wortlos ging er um Stampflis Schreibtisch herum, schaltete den Rechner aus, zog sämtliche Kabel heraus, packte den Thinclient unter seinen Arm und verliess Stampflis Büro. Zurück an seinem eigenen Arbeitsplatz prüfte er als Erstes die Datenbank auf dem Fileserver. Die Wiederherstellung war bereits abgeschlossen. Amschwyler loggte sich ein und öffnete ein Rezept. Auf seinem Bildschirm erschienen eine Zutatenliste und Verarbeitungshinweise. Er rief Seidler an und teilte ihm mit, dass der Zugriff auf die Datenbank wieder funktioniere. Bevor er sich nun Stampflis Rechner widmen konnte, brauchte Amschwyler frische Luft. Er konnte es noch immer nicht fassen. Dieser dämliche Stampfli. Als Amschwyler durch den Haupteingang nach draussen ging, sah er gerade noch das Heck von Stampflis Wagen um die Gebäudeecke biegen. Amschwyler musste grinsen. Dieser dämliche Stampfli, dachte er noch einmal.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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Folge 1

Amschwyler und die BYOD-Strategie

Urs Amschwyler ist IT-Chef bei der fiktiven Stampfli AG, einem KMU mit rund 50 Mitarbeitenden, spezialisiert auf die Produktion von Kaffeegebäck. Der exzentrische, technikverliebte Gründer und CEO Dr. Alfons Stampfli verlangt regelmässig das anscheinend Unmögliche von Amschwyler. Besonders angetan ist Stampfli seit kurzem vom „BYOD“-Trend – sehr zum Leidwesen von Amschwyler.

Kurz nach 10 Uhr klingelte Urs Amschwylers Telefon. Sein Chef wollte ihn sehen, sofort. Amschwylers anfänglich gute Stimmung begann sich schlagartig zu verflüchtigen. Dr. Alfons Stampfli war am Morgen ohne ein Wort des Grusses an Amschwyler vorbeimarschiert und hatte sich in seinem Büro verkrochen. Für gewöhnlich war das ein gutes Zeichen, denn ein schlecht gelaunter Stampfli bedeutete in der Regel, dass man den ganzen Tag nichts von ihm hören würde. Entsprechend hatte sich Amschwyler auf einen ruhigen und friedlichen Tag eingestellt.

Zu früh gefreut, dachte Amschwyler missmutig. In der leisen Hoffnung, Stampfli habe bloss sein Passwort vergessen oder wieder versehentlich ein Kabel vertauscht, machte sich Amschwyler auf den Weg zu Stampflis Büro. Dort angekommen, klopfte er an die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

“Amschwyler! Kommen Sie rein. Nein, bleiben Sie stehen, es dauert nicht lange.” Amschwyler schwante Fürchterliches. “Ich war gestern bei Beat Hofstetter, Sie wissen schon, der Chef von Back- und Feinkost Oberthal.” Amschwyler wusste nur zu gut, wer Hofstetter war. Wann immer Stampfli von einem “Besuch” bei Hofstetter zurückkehrte, erhielt er, Amschwyler, wieder einen Spezialauftrag. Was würde es wohl diesmal sein?

“Jeder in seiner Firma arbeitet mit seinen eigenen privaten Geräten. Tablets, Smartphones, Laptops. Das ganze Programm. Warum machen wir das nicht auch so?” Amschwyler wurde es flau. Er hatte befürchtet, dass dieser Tag kommen würde. Mit Argusaugen hatte er seit geraumer Zeit den sogenannten “Bring your own Device”-Trend (BYOD) verfolgt. Die Fachpresse und die grossen IT-Firmen konnten anscheinend gar nicht genug davon bekommen. Die Vorteile leuchteten Amschwyler durchaus ein, doch bei dem Gedanken an die Vielzahl unterschiedlicher Endgeräte, die Datensicherheit und auch die juristischen Aspekte wurde ihm schwindlig.

Sein Chef wartete auf eine Antwort. “Herr Stampfli, mit Verlaub, ich glaube, wir sollten davon absehen, etwas Derartiges bei uns umzusetzen. Der organisatorische Aufwand wäre immens, ganz zu schweigen von den Kosten. Und zur Datensicherheit muss ich Ihnen ja sicherlich keinen Vortrag halten.” Amschwyler bemerkte seinen Fehler zu spät, als dass er ihn noch hätte korrigieren können. Sein Chef bestand darauf, stets mit seinem Doktortitel angesprochen zu werden. In Kombination mit seiner negativen Antwort würde das Gespräch nun eine für ihn noch schlechtere Wendung nehmen.

“Amschwyler!”, schrie Stampfli. “Wie oft muss ich Ihnen das noch erklären? Ich habe meinen Doktor nicht gemacht, nur damit er auf meiner Visitenkarte steht! Merken Sie sich das endlich! Und was Ihre Antwort auf meine Frage angeht. Ein Nein akzeptiere ich nicht. Bis Ende dieser Woche habe ich ein fertiges Konzept auf meinem Tisch. An die Arbeit!” Weiteres Argumentieren zwecklos. Amschwyler trottete zurück zu seinem Büro und liess sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Zum wiederholten Male fragte er sich, wa­rum er sich das antat. Seit über 20 Jahren war er in IT-Abteilungen tätig, und seit annähernd 15 Jahren war er Stampflis “Leibeigener”. Jemand mit seiner Erfahrung hätte wohl kaum Mühe, eine andere Stelle zu finden. Vermutlich waren es die He­rausforderung und einige liebgewonnene ­Freiheiten, die ihn davon abhielten, etwas anderes zu machen. Abgesehen von Stampfli gab es niemanden, der ihm in seine Arbeit reinredete. Auf der anderen Seite war er bei Problemen immer auf sich gestellt. Aber genau das reizte ihn tief in seinem Inneren. Nach dem kurzen Anflug von Selbstmitleid widmete er sich also seiner neuen Aufgabe. Im Grunde hatte er eine grobe Idee, wie er die Sache anpacken musste. Erst kürzlich hatte er sich an einer IT-Fachveranstaltung mit einigen Branchenkollegen darüber unterhalten.

Durch das Gespräch mit den Kollegen wusste er, wie Anbieter von BYOD-Dienstleistungen vor einer Umsetzung im Unternehmen in etwa vorgingen. Er wollte so viel wie möglich in Eigenarbeit vorbereiten, bevor er sich erste Offerten einholen würde. Dass er das Ganze nicht allein würde stemmen können, war ihm aber von vornherein klar. Es graute ihm nur davor, Stampfli diesen Umstand beizubringen. Amschwyler hielt kurz inne.  Er versuchte, sich an das Gespräch an der Fachveranstaltung zu erinnern. Einer der Kollegen hatte von fünf Schritten bis zur BYOD-Strategie gesprochen. Der Begriff SWOT-Analyse war gefallen, glaubte Amschwyler sich zu erinnern.

Am einfachsten wäre es also, sich daran zu halten und mit einer Ist-Analyse zu beginnen, dachte er sich. Danach sollte er sich Gedanken über die Sicherheitslage machen und überdenken, welche potenziellen Gefahren künftig auftreten könnten, wenn dann alle Mitarbeitenden mit ihren eigenen Geräten hantieren würden. Auch seine Wahrnehmung der Unternehmens-IT und der Mitarbeitenden würde er ändern müssen. Jeder Mitarbeitende würde zum individuellen Endpunkt werden. Das ­bedeutete, dass er die Zugriffsrechte, die Anwendungen und den Arbeitsort für jeden einzelnen festlegen beziehungsweise mit ein­be­ziehen musste. Möglicherweise liessen sich aber einige in Gruppen zusammenfassen. Ein weiterer Punkt wäre die Gerätesicherheit. Er musste sich überlegen, wie er die Mitarbeitenden dazu bringen konnte, Verschlüsselungs- und Authentifizierungsmassnahmen an ihren Geräten vorzunehmen. Das würde mit der generellen Information und Ausbildung der gesamten Belegschaft einhergehen. Wenn tatsächlich alle im Betrieb mit ihren eigenen Geräten arbeiten wollten, beziehungsweise sollten, mussten sie entsprechend geschult werden. Es gäbe gewisse Richtlinien, an die sich alle halten müssten. Was für ein organisatorischer Aufwand. Ein Albtraum!

Nach all diesen Überlegungen notierte sich Amschwyler also die fünf wesentlichen ­Punkte: Schritt 1: Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Dumme Frage. Wenn Stampfli wüsste, wohin er wollte, wäre Amschwylers Leben vermutlich nur halb so mühsam. Schritt 2: ­Aktuelle Sicherheitssituation, potenzielle ­Lücken, künftige Gefahren. Schritt 3: Wahrnehmungsveränderung; die einzelnen Mitarbeitenden werden zum Endpunkt; möglicherweise in Arbeitsgruppen unterteilen, je nach Verantwortung und verwendeten Geräten. Schritt 4: Information und Ausbildung der Mitarbeitenden. Sicherheitsregeln und -verhaltensweisen müssen in jedem Fall eingehalten werden. Schritt 5: Adaption und Weiterentwicklung der BYOD-Strategie; regelmässige Überprüfung der Nutzung und mögliches Wachstum/Expansion einplanen.

Amschwyler blickte einigermassen zufrieden auf die fünf Punkte. Mehr konnte er aus seiner Sicht für den Moment nicht tun. Unter Schritt 1 konnte er vielleicht noch die vorhandene Infrastruktur auflisten. Was die verwendeten Endgeräte anbelangt, würde er wohl oder übel jeden betroffenen Mitarbeitenden befragen müssen. Da erst Mittwoch war, hatte er für den Feinschliff aber noch den ganzen Donnerstag Zeit. Vorausgesetzt, es tauchten keine anderen Probleme auf und Stampfli würde nicht ungeduldig werden. Er spielte mit dem Gedanken, bis zum Gespräch mit Stampfli ­bereits einige Offerten einzuholen. Es würde sicherlich ein Mobile-Device-Management-System benötigt werden. Ausserdem müssten ­Anpassungen an der Netzwerkinfrastruktur vorgenommen werden. Seit Jahren hörte er sich Beschwerden über den miserablen WLAN-Empfang im ganzen Haus an und leitete sie an seinen Chef weiter.

Nun würde sich Stampfli vor der Aufrüstung der WLAN-Infrastruktur nicht mehr drücken können. Tablets und Smartphones konnte er schliesslich nicht über Kabel einbinden. Unter dem Strich würde das Projekt eine ganze Stange Geld kosten. Er hatte Stampfli gewarnt, aber der Herr Doktor hatte es ja so gewollt. Am Freitagmorgen machte sich Amschwyler mit gemischten Gefühlen auf den Weg zu Stampflis Büro. Was die Strategie anging, war er sich seiner Sache eigentlich sicher. Er hatte am Donnerstag eine E-Mail an alle betroffenen Mitarbeitenden verschickt, in dem er sie darauf hinwies, dass es in den nächsten Wochen vermutlich zu einigen Neuerungen kommen würde. Er hielt alle an, ihm so schnell wie möglich mitzuteilen, ob und mit welchen ihrer privaten Endgeräte sie künftig arbeiten wollten. Von vielen bekam er positive Rückmeldungen und halbwegs brauchbare Angaben zu ihren Geräten. Als Basis für die Präsentation vor Stampfli reichte das.

Sorgen bereiteten ihm die notwendigen Neuanschaffungen und die Kosten für das Mobile-­Device-Management-System. Stampfli würde das nicht gefallen. Aber diesmal konnte er sich nicht rausreden. Wenn er wollte, dass alle über ihre Mobilgeräte von überall aus arbeiten konnten, würde er in die Tasche greifen müssen. Kurz bevor er Stampflis Büro erreichte, klingelte Amschwylers Handy. Stampfli. “Amschwyler! Ich komme heute nicht ins Büro. Wegen dieser Tablet-Geschichte; es ist mir egal, was das kosten wird. Machen Sie einfach. Sorgen Sie dafür, dass ich Hofstetter beeindrucken kann, dann haben Sie nichts zu befürchten. Schönes Wochenende!”

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.

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