Der Schatten

Lautes Poltern, dann der Klang von Glas, das auf hartem Holzboden zerspringt. Ein gedämpftes Schnauben. Alexandra stand steif vor ihrer Wohnungstür. Die Hand mit dem Schlüssel wenige Millimeter vor dem Schlüsselloch wie eingefroren.

Die Geräusche kamen aus ihrer Wohnung.

Einbrecher? Was war das für ein Schnauben? Was ging hier vor? Was sollte sie tun?

Sie löste sich aus ihrer Starre, zog die Hand mit dem Schlüssel zurück, machte einen Schritt rückwärts.

Wieder das Klirren von Glas. Wieder das gedämpfte Schnauben. Alexandra zuckte.

Hastig durchwühlte sie ihre Tasche. Irgendwo tief darin hatte sie ein Pfefferspray. Sie spürte das kühle Metall des Druckkörpers, umschloss die Dose, zog sie hervor. Mit der anderen Hand schob sie den Schlüssel ins Schlüsselloch. Ganz langsam und so leise wie möglich drehte sie den Schlüssel.

Einmal. Zweimal.

Sie drückte die Klinke herunter, gab der Tür einen Stoss. Mit mehr Wucht als sie erwartet hatte, flog die Tür auf und krachte an die Wand.

Der Gestank nach Verwesung, Kot und Erbrochenem schlug ihr entgegen.

Ihr wurde schlecht. Alexandra musste sich abwenden.

Sie hörte wieder das Schnauben. Jetzt weniger gedämpft und gefolgt von einem schwachen Winseln.

Sie zog sich den Schal über Nase und Mund, wendete sich wieder dem Eingang zu.

Der Parkettboden im Gang war übersät von Schleifspuren und tiefen Furchen.

Mit vorgehaltenem Pfefferspray machte sie einen ersten Schritt in die Wohnung. Mit jedem weiteren Schritt wurde der Gestank stärker. Der Schal vor ihrem Gesicht hielt ihn kaum zurück.

Sie ging bis zur ersten Tür im Gang. Die Schleifspuren führten dort hinein. Das Badezimmer. Die Tür war angelehnt.

Alexandra hielt inne.

Wie sollte sie vorgehen? Tür aufstossen und einfach drauflos sprühen? Anklopfen?

Sie spürte wie sie am ganzen Leib zitterte. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals als wollte es aus ihr heraus springen und sich in Sicherheit bringen.

Sie gab sich einen Ruck und der Tür einen starken Tritt.

Das Fenster über der Badewanne stand weit offen. Der Spiegel, der eigentlich über dem Waschbecken hängen sollte, verteilte sich auf dem Boden. Einige Fliesen an den Wänden hatten Risse. Ansonsten war da nichts. Kein Einbrecher, kein Ungeheuer.

Lautes Brüllen aus Richtung der Küche. Das Geräusch von Krallen, die über Kachelboden scharren.

Alexandra schwang herum.

Am Ende des Ganges sah sie im Halbdunkel einen Schatten verschwinden.

Der Gang tat sich an seinem Ende zu einem weiten Raum auf. Links um die Ecke ging es in die Küche, rechts in eine Galerie.

Der Schatten hatte sich nach links gewendet. Alexandra ging zum Ende des Ganges, presste sich an die Wand. Vorsichtig schob sie ihren Kopf nach vorne, blickte um die Ecke.

Sie erstarrte erneut. Ihr Herz setzte einen Moment aus.

Der Schatten hatte sich unter dem Esstisch verkrochen, füllte den ganzen Platz darunter aus. Hatte sie nicht erst gestern mit sieben Freunden an diesem Tisch gefeiert?

Alexandra sah verklebtes Fell. Es könnte mal braun gewesen sein. Jetzt hatte es die Farbe von eingetrocknetem Blut.

Der Körper des Schattens hob und senkte sich sehr schnell. Zwischen kurzen, schwachen Atemstössen, die dem Hecheln eines erregten Hundes ähnelten, aber nichts von dessen Freude hatten, hörte Alexandra wieder das Winseln.

Der Boden unter dem Fell war mit einer dunklen, schmierigen Schicht überzogen. Alexandra konnte nicht sagen, ob der Gestank von dieser Schicht oder dem Schatten selbst ausging. Er war hier in der Küche allgegenwärtig.

Sie zog sich in den Gang zurück.

In Ihrer Wohnung war lag ein wildes, verletztes Tier unter dem Tisch. Sie hatte grosse Tatzen mit langen, spitzen Krallen erkannt. Der Kopf war gross wie ein Riesenkürbis. Der Schatten hatte aber nicht in ihre Richtung geblickt. Sie hatte nur den Hinterkopf sehen können.

Alexandra wusste nicht was für ein Tier das war. Der Grösse und den Proportionen nach zu urteilen ein Bär. Aber das war vollkommen absurd. Wo sollte der herkommen. Ihre Wohnung lang mitten in Zürich. Auf zwei Seiten des Hauses waren stark befahrene Strassen, auf der dritten lag die Bahnlinie. An die vierte grenzte ein kleiner Garten. Danach kam wieder ein Haus.

Ein schmerzerfülltes Grunzen holte sie aus ihren Gedanken zurück.

Sie musste etwas tun. Alexandra liess sich in die Hocke sinken, immer noch eng an die Wand gedrückt. Mit einer Hand hielt sie das Pfefferspray in Richtung Gangende, mit der anderen kramte sie in der Tasche nach ihrem Handy, wählte den Notruf, presste das Telefon ans Ohr.

Etwas stimmte nicht.

Das Freizeichen klang seltsam. Es war nicht das gewohnte einsekündige Piepen. Es war ein Schrillen.

Alexandra nahm das Telefon vom Ohr. Das Schrillen blieb. Sie schloss die Augen. Das Schrillen blieb.

Sie öffnete die Augen und stellte den Wecker ab.