Das Ende
Jede Geschichte ist irgendwann vorbei. Auch die Geschichte von Urs Amschwyler. Bevor Amschwyler abtritt, tragen sich jedoch Dinge zu, denen er hilflos ausgeliefert ist.
Amschwyler öffnete die Augen. Nichts. Er blinzelte. Es blieb dunkel. Schmerz durchfuhr Amschwylers Körper. Sein Kopf dröhnte. Er lag auf seiner linken Seite. Unter ihm unebener Steinboden, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Er versuchte, sich zu drehen. Keine Chance. Fesseln auch an den Füssen. Panik ergriff ihn.
Was ging hier vor? Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Warum konnte er nichts sehen? Seine Gedanken überschlugen sich.
Bleib ruhig, ermahnte er sich. Amschwyler lauschte. Totenstille.
Da plötzlich ein Geräusch, ein leises Rascheln, ein Kratzen. Etwas streifte seine Beine. Eine Ratte? Amschwyler schauderte es.
Mit einem Mal nahm er den Geruch wahr, der ihn umgab: eine Mischung aus faulenden Kartoffeln und Kot, kombiniert mit einem Hauch von Verwesung. Amschwyler wurde übel. Bleib ruhig, ermahnte er sich erneut.
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Was war seine letzte Erinnerung? Die Kantonspolizei hatte Ermittlungen im Fall Seidler eingeleitet. Die Polizisten waren nach Stanglisbiel gekommen, untersuchten den Tatort und sahen sich die Aufnahmen der Überwachungskameras an. Die gesamten Aufnahmen.
Daraufhin wollten sie Amschwyler mit aufs Revier nehmen. Immerhin: Er durfte in seinem eigenen Wagen fahren – eskortiert von zwei Streifenwagen. Nach gut zwei Stunden hatten ihn die Beamten entlassen. Amschwyler war zu seinem Auto zurückgekehrt, hatte es aufgeschlossen, sich hinters Steuer gesetzt und … nichts mehr. Schwärze.
Jemand musste im Auto auf ihn gewartet und ihn betäubt haben. Seinen Kopfschmerzen nach zu urteilen mit Chloroform. Die Panik versuchte wieder Besitz von ihm zu ergreifen.
Etwa zur gleichen Zeit sass Alfons Stampfli in seinem Büro in Stanglisbiel. Er schlug mit beiden Händen auf die Tastatur vor ihm ein. Gerade, als er eine E-Mail hatte schreiben wollen, war sein Bildschirm eingefroren. Nichts funktionierte mehr.
Stampfli griff zum Telefon und hämmerte Amschwylers Nummer in die Tasten. Der IT-Chef nahm nicht ab. Wütend wählte Stampfli Amschwylers Handynummer. Kein Freizeichen, direkt die Combox.
Stampfli schnaubte. Die Tür zu seinem Büro flog auf. Seidlers Stellvertreter.
„Dr. Stampfli! Die Produktion steht still. Nichts geht mehr. Sämtliche Maschinen streiken, kein PC reagiert auf Eingaben. Und ich kann Amschwyler nirgends finden“, keuchte der Mann, an dessen Namen sich Stampfli nicht erinnern konnte.
Stampfli runzelte die Stirn. Was passierte hier?
Seidlers Stellvertreter wartete. Stampfli räusperte sich und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich plötzlich ein Fenster auf seinem Bildschirm öffnete. Es sah aus wie ein Video. Doch das Fenster war schwarz.
„Sehen Sie sich das an. Hier passiert irgendetwas auf meinem Rechner“, sagte Stampfli und winkte Seidlers Stellvertreter heran.
Der Monitor leuchtete mit einem Mal grell auf. Das Videofenster zeigte einen Kellerraum. Im gleissenden Scheinwerferlicht krümmte sich in der Mitte des Raumes eine gefesselte Gestalt. Ihr Gesicht war von der Kamera abgewandt. Stampfli musste das Gesicht nicht sehen, um zu erkennen, wer da lag.
Das Fenster schloss sich wieder, der Bildschirm fror wieder ein. Stampfli wandte den Blick vom Monitor ab und schaute zu Seidlers Stellvertreter. Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Stampfli griff zum Telefon und wählte die Nummer des leitenden Ermittlers im Fall Seidler.
Amschwylers Herz raste. Er wollte schreien, aber seine Stimme versagte. Nach Atem ringend versuchte er sich auf den Rücken zu drehen. Es klappte nicht. Nachdem er sich aufgrund des Gestanks beinahe hatte übergeben müssen, war die Dunkelheit mit einem Mal gleissender Helligkeit gewichen. Scheinwerfer hatten den Raum für etwa zehn Sekunden mit Licht durchflutet.
Jetzt verschlang die Dunkelheit wieder jedwede Kontur im Raum. Doch auf Amschwylers Netzhäuten tanzten alle möglichen Farben und Blitze. Einmal mehr ermahnte er sich zur Ruhe.
Amschwylers Herzschlag normalisierte sich langsam. Er bekam wieder mehr Luft. Seidler kam ihm in den Sinn. Wer immer Seidler überfallen hatte, musste auch hinter der Entführung stecken. Doch mit welcher Absicht? Amschwyler hörte, wie ein schwerer Riegel beiseite geschoben wurde. Ein Lichtstrahl teilte das Dunkel. In der Tür erschien eine Gestalt. Das Gegenlicht machte es Amschwyler unmöglich, Details zu erkennen.
Die Gestalt kam näher, das Gesicht hinter einer Maske verborgen. Die gleiche Maske, die Amschwyler im Überwachungsvideo gesehen hatte – eine hässliche Fratze, die direkt vom Set eines Horrorfilms hätte stammen können. Amschwyler begann zu schwitzen, sein Herzschlag beschleunigte sich wieder.
„Sie sind wach, Amschwyler. Gut!“, sagte der Maskierte. Amschwyler beruhigte sich augenblicklich. Er kannte diese Stimme.
Alfons Stampfli blickte einem IT-Spezialisten der Kantonspolizei über die Schulter. Der Spezialist sass an Stampflis Schreibtisch, seine Finger flogen über die Tasten. Stampfli verstand weder was noch wie der Mann es angestellt hatte, aber nach nur wenigen Augenblicken war Stampflis PC aus seiner Starre erwacht. Jetzt versuchte der Beamte, den Auslöser für das Einfrieren und das eigenartige Video-Pop-up zu finden.
Stampfli wandte sich ab und ging an das Fenster, das zum Vorplatz der Stampfli AG gerichtet war. Er blickte auf die Überreste des Sockels, auf dem die unsägliche Statue gestanden hatte. Der alte Mann seufzte.
Der leitende Ermittler stand auf einmal neben Stampfli und berührte ihn sanft an der Schulter. „Herr Stampfli, wir haben Herrn Amschwylers Wagen gefunden.“
„Wie das?“, fragte Stampfli erstaunt.
„Handyortung. Das Telefon lag im Wagen. Von Herrn Amschwyler selbst fehlt allerdings jede Spur.“
Stampfli nickte und blickte wieder aus dem Fenster. Er fühlte sich mit einem Mal alt. Vielleicht war es das Beste, den Laden dicht zu machen oder zu verkaufen. Ein Aufschrei riss Stampfli aus seinen Gedanken.
„Ich hab ihn“, frohlockte der IT-Spezialist. „Bluemeweg 26 in Grantikon.“ Stampfli zuckte zusammen.
„Das … kann …“, er räusperte sich. „Das kann nicht sein, meine Herren. Ich kenne die Adresse. Es ist das Elternhaus meiner Frau. Mein Sohn Sylas wohnte dort nach seinem Studium.“ Der leitende Ermittler hob die Augenbrauen.
„In diesem Fall, Herr Stampfli, werden wir dort wohl nicht nur Herrn Amschwyler finden. Ich habe schon eine ganze Weile den Verdacht, dass Ihr Sohn hinter all dem steckt.“
Stampfli schüttelte vehement den Kopf. „Das glaube ich nicht. Warum sollte er …?“
„Nun, wir werden in Kürze Gewissheit haben. Wenn Sie wollen, können Sie beim Zugriff dabei sein.“ Die Worte waren das Stichwort für die Beamten. Sie packten ihre Sachen zusammen, forderten zwei Einsatzwagen zur Verstärkung an und machten sich auf den Weg nach Grantikon. Stampfli begleitete sie.
Das Haus sah verlassen aus. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Der Garten verwildert.
„Herr Stampfli, gibt es einen Hintereingang?“, fragte der Einsatzleiter. Stampfli nickte.
Der Einsatzleiter sprach einige Befehle in sein Funkgerät und bedeutete Stampfli, während des Zugriffs hinter ihm zu bleiben.
Ein weiterer Befehl ins Funkgerät und die Polizisten setzten sich in Bewegung.
Die Maske war jetzt ganz nah vor Amschwylers Gesicht. Schlechter Atem strömte unter der Maske hervor. Was war mit dem Jungen bloss passiert? Amschwyler entschied sich für Angriff.
„Sylas! Was soll das Theater?“ Der Maskierte machte einen Satz zurück. Amschwyler hörte den jungen Stampfli hinter der Maske schwer atmen.
Mit der rechten Hand zog er ein furchteinflössendes Messer aus einer Tasche hinter seinem Rücken. Mit der linken riss er sich die Maske vom Kopf und schleuderte sie von sich.
„Amschwyler, Amschwyler, Amschwyler.“ Sylas schüttelte den Kopf. „Warum konnten Sie nicht einfach mitspielen? Jetzt kann ich Sie leider nicht mehr gehen lassen.“
Amschwyler spürte, wie die Panik wieder Besitz von ihm ergriff. Er wand sich hin und her, versuchte irgendwie von Sylas wegzukommen. Es half nichts. Sylas rückte wieder ganz nah an Amschwyler heran und hielt ihm das Messer an die Kehle.
Amschwyler schloss die Augen, wartete auf den erlösenden Schmerz.
„Eigentlich ist es eine Schande“, flüsterte Sylas in Amschwylers Ohr. „Ich habe Sie immer gemocht. Sie werden mir fehlen.“
Der Schmerz kam. Aber nicht dort, wo Sylas die Klinge in Amschwylers Hals gedrückt hatte. Sylas war plötzlich zusammengesackt und lag jetzt schlaff neben Amschwyler auf dem Boden. Amschwyler selbst spürte ein Stechen in seiner rechten Schulter. Sein Hemd fühlte sich nass an. Blut.
Amschwyler blickte in Richtung Tür. Mehrere Polizisten in Vollmontur strömten in den Kellerraum. Einer befreite Amschwyler von seinen Fesseln, zwei weitere tasteten nach dem Puls bei Stampflis Sohn. Zu viel für Amschwyler, er verlor das Bewusstsein.
Als Amschwyler seine Augen wieder öffnete, lag er in einem Spitalbett. Auf einem Stuhl neben ihm sass Alfons Stampfli. Er hatte die Augen geschlossen.
Amschwyler versuchte, sich aufzusetzen. Schmerz durchfuhr seine rechte Schulter. Er unterdrückte einen Schrei. Stampfli erwachte.
„Amschwyler! Schön, sind Sie wieder unter uns.“ Stampfli strahlte.
Amschwyler wandte sich ab. Nach allem, was passiert war, wollte er mit dieser gestörten Sippe nichts mehr zu tun haben.
„Gehen Sie bitte, Herr Stampfli. Ich weiss nicht, was mit Ihnen und Ihrer Familie nicht stimmt, aber ich bin fertig mit Ihnen.“
Stampfli stutze. „Aber …“
Amschwyler richtete seinen Blick wieder auf Stampfli. „Verschwinden Sie!“
Stampfli erwiderte den Blick einige Sekunden lang. Amschwyler hielt Stand. Der Alte griff sich seinen Gehstock, nahm den Mantel, den er über die Lehne gehängt hatte, und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.