Folge 6

Ein Denkmal für Dr. Alfons Stampfli

Der Herzinfarkt des alten Stampfli hatte Amschwyler die Möglichkeit gegeben, einen Vorstoss in Richtung Outsourcing zu wagen. Stampflis Sohn Sylas, der neue Geschäftsführer der Stampfli AG, war begeistert. Amschwyler sollte alles in die Wege leiten. Doch die Dinge entwickelten sich anders als erwartet.

Nicht immer entwickelt sich das Leben so, wie man es sich vorstellt. Besonders nicht für Urs Amschwlyer. Der hatte sich darauf gefreut, endlich die weniger wichtigen Teile und auch einige geschäftskritische Anwendungen der Stampfli-IT an Outsourcer auszulagern. Und Amschwyler war, seit er mit Sylas Stampfli über das Outsourcing gesprochen hatte, sehr fleissig gewesen. Er hatte verschiedene IT-Dienstleister auf Herz und Nieren geprüft, Offerten eingeholt und mit Branchenkollegen gesprochen. Dafür hatte er viel mehr Zeit investiert, als er eigentlich wollte. Die Schuld dafür traf Amschwyler jedoch nicht allein. Er und Stampfli junior hatten vereinbart, sich am Ende der Woche wieder zusammenzusetzen. Da es nicht dazu gekommen war, hatte sich Amschwyler zunächst intensiver mit dem Thema beschäftigt. Inzwischen lag ihr Gespräch aber gut zwei Wochen zurück, und der junge Stampfli war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte Sylas gesehen, seit er verkündet hatte, dass ihn sein Vater zum Geschäftsführer ernannt hatte. Amschwyler fragte sich, wie es weitergehen sollte. Er sorgte sich um die Zukunft des Unternehmens. Er entwickelte Zweifel an seinem Vorhaben und vor allem an den Führungsqualitäten seines neuen Chefs.

Amschwyler stand auf, nahm seinen Kaffee in die Hand und ging zum Fenster. Er hielt seine Nase über die Tasse, sog den Duft des Kaffees ein und blickte in die Ferne. Er seufzte. Sein Blick streifte die Zufahrtsstrasse zum Gelände der Stampfli AG. Was er dort sah, verwirrte ihn. Drei Fahrzeuge näherten sich dem Firmengelände. Das vorderste war unverkennbar der Wagen des alten Stampfli. Amschwyler konnte noch nicht erkennen, wer am Steuer sass. Ob der Herr Doktor wohl wieder auf den Beinen war? Er wusste nicht, wie es dem alten Stampfli ging. Seine Anrufe bei der Familie blieben unbeantwortet, und Stampflis Sekretärin stand wie immer auf Kriegsfuss mit Amschwyler. Sie sprach inzwischen gar nicht mehr mit ihm. Das höchste der Gefühle waren einsilbige E-Mails. Im letzten riet sie ihm, Herrn Stampfli im Spital zu besuchen, die Adresse lieferte sie gleich mit.  Amschwylers Aufmerksamkeit galt im Augenblick aber ohnehin mehr den beiden anderen Fahrzeugen. Ein Autokran und ein Tieflader, beladen mit einem in Kunststoffplanen eingewickelten Objekt. Was hatte das zu bedeuten?

Amschwyler schob seinen Schreibtischstuhl zum Fenster, machte es sich gemütlich und beobachtete das weitere Geschehen. Als der Tross auf das Firmengelände fuhr, erkannte Amschwyler Sylas am Steuer des Wagens. Sonst sass niemand im Fahrzeug. Sylas steuerte nicht seinen Parkplatz an, sondern fuhr bis direkt vor den Haupteingang. Der Autokran und der Tieflader folgten ihm. Dann hielt Sylas unvermittelt an, stieg aus und ging zum Führerhaus des Autokrans. Er wechselte einige Worte mit dem Fahrer und gestikulierte wild in verschiedene Richtungen.  Amschwylers Telefon begann zu schrillen. Er ignorierte es. Amschwyler hatte nicht bemerkt, dass Stampfli junior während des Gesprächs mit dem Fahrer sein Mobiltelefon gezückt hatte. Jetzt drehte sich Stampfli um, blickte genau in Amschwylers Richtung und wedelt mit dem Telefon. Amschwyler begriff. Er ging zum Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

„Amschwyler! Bewegen Sie Ihren Hintern hier herunter. Sie müssen das aus der Nähe sehen“, schallte Sylas’ Stimme aus der Hörmuschel. Er hatte den Satz noch nicht richtig beendet, als er schon wieder auflegte. Dabei hatte er ähnlich euphorisch geklungen wie damals, als er von seinen grossen Plänen für das Unternehmen schwärmte. Amschwyler ahnte nichts Gutes. Ihm war, als hätte Sylas zwei verschiedene Persönlichkeiten. Über das Outsourcing hatte er mit dem rational denkenden Sylas gesprochen. Der Sylas, der da vor seinen Augen zwischen Autokran und Tieflader hin und her sprang, hatte eher etwas von einem kleinen Jungen.

Amschwyler verliess sein Büro. Auf dem Gang traf er Jürg Seidler, den Produktionsleiter. „Guten Morgen Urs. Bisch zwäg?“, fragte Seidler mit einem schiefen Grinsen. Amschwyler blickte Seidler verständnislos an. Für gewöhnlich machte Seidler sich nichts aus Höflichkeitsfloskeln. „Ja, alles bestens, danke. Aber draussen passiert irgendetwas. Junior beehrt uns mal wieder mit seiner Anwesenheit und er hat schweres Gerät mitgebracht.“ Seidler blickte auf seine Uhr, zuckte mit den Schultern und ging einfach weiter. So viel zur Höflichkeit Seidlers. Amschwyler setzte sich wieder in Bewegung. Das ungute Gefühl blieb.

Unten angekommen traute Amschwyler seinen Augen kaum. Der Autokran hatte ein Stück abseits des Haupteingangs Stellung bezogen und damit begonnen, aufzustellen, was zuvor unter den Planen verborgen war: Eine gut vier Meter hohe Statue. Aber nicht irgendeine Statue. Nein, der Autokran stellte einen überlebensgrossen Dr. Alfons Stampfli auf, in Herrscherpose sitzend auf einem steinernen Thron.

Amschwyler fehlten die Worte. Stampflis Sohn musste von allen guten Geistern verlassen sein. Bevor Amschwyler etwas sagen oder sonst in irgendeiner Form reagieren konnte, kam Stampfli junior auf ihn zugerannt. Er strahlte bis über beide Ohren. „Was meinen Sie, Amschwyler? Ist sie nicht grossartig? Mein Vater wird begeistert sein“, sagte Sylas ganz ausser Atem. Sein Blick trübte sich plötztlich. „Das heisst, wenn er sein Bett je wieder verlassen wird. Es geht ihm nicht gut, Amschwyler. Der anfängliche Optimismus der Ärzte ist verflogen. Sein Herz hat offenbar doch mehr Schaden genommen, als anfänglich gedacht.“

Amschwyler blickte auf die Statue, die noch immer über ihnen am Kran hing. Trotz aller Demütigungen, die er über die Jahre hatte ertragen müssen, sorgte er sich um den alten Stampfli. Gleichzeitig wollte er den jungen Stampfli an den Schultern packen und so lange schütteln, bis er wieder zur Vernunft kam. Amschwyler entschied sich für ein hartes Durchgreifen, das wäre sicher im Sinne des Alten. Also ergriff er Sylas am Arm und zog ihn ein Stück auf die Seite, ausser Hörweite der Fahrer. In scharfem Ton nahm er den jungen Stampfli ins Verhör. „Was glauben Sie, hier zu tun? Seit zwei Wochen hat Sie niemand gesehen oder auch nur ein Sterbenswörtchen von Ihnen oder Ihrer Familie gehört. Wir alle sorgen uns um das Wohl Ihres Vaters, aber Sie haben die Verantwortung über das Unternehmen übernommen. Ist Ihnen das entgangen? So ein Betrieb führt sich nicht von allein.“ Amschwyler blickte Sylas in die Augen, wartete auf eine Reaktion. Der Junge, Amschwyler sah ihn immer mehr als Jungen, wirkte verstört. Er hielt Amschwylers Blick zwar stand, zeigte aber sonst keinerlei Regung. „Was soll das mit der Statue? Ich glaube kaum, dass wir ein Budget für Statuen haben“, fuhr der IT-Chef fort.

Amschwyler spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. In ihm begann es zu brodeln. Er versuchte, sich zu beruhigen, doch seine Wut wuchs und würde in Zorn umschlagen. Er fühlte sich verantwortlich für das Unternehmen, und dieser Bengel war drauf und dran, alles ins Chaos zu stürzen. Was würde er als Nächstes anstellen? Einen Palast errichten? Amschwyler musste dem ein Ende setzen. Andernfalls würden er und die restlichen 49 Mitarbeiter der Stampfli AG bald ohne Job dastehen. Bevor Amschwyler aber ein weiteres Wort sagen konnte, erlangte Stampfli junior die Sprache zurück.

„Amschwyler, Sie haben mir gesagt, dass wir durch die Auslagerung unserer IT eine Menge Geld sparen. Also habe ich dieses Geld in die Hand genommen und setze meinem Vater jetzt ein Denkmal. Akzeptieren Sie das, oder lassen Sie es bleiben!“ Amschwyler glaubte nicht, was er da hörte. Er hatte es tatsächlich mit einem kleinen Jungen zu tun. Noch dazu mit einem, der jeglichen Bezug zur Realität verloren haben musste. Er versuchte es ein letztes Mal mit Sachlichkeit. „Dieses Geld, Herr Stampfli, haben wir noch nicht gespart. Wir haben noch nichts ausgelagert. Wir beide wollten vor zwei Wochen das weitere Vorgehen besprechen. Sie sind stattdessen spurlos verschwunden. Bis wir tatsächlich Geld sparen, ist es noch ein weiter Weg. Was haben Sie während Ihres Studiums eigentlich gelernt?“ Amschwyler fühlte sich hilflos. Er war doch bloss der IT-Chef. Warum musste er sich mit alldem herumplagen? Er musste den alten Stampfli besuchen. Niemand sonst konnte diesem Wahnsinn ein Ende setzen. Amschwyler liess Stampfli junior stehen, holte seine Autoschlüssel und machte sich auf den Weg ins Spital. Das Outsourcing musste warten.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.