Juniors grosse Stunde
Stampflis Sohn Sylas hat sein Studium abgeschlossen und soll nun in das Unternehmen einsteigen. Für Amschwyler scheint das zunächst ein Segen zu sein. Stampflis Junior könnte frischen Wind ins Unternehmen bringen. Doch der Wind entwickelt sich zu einem Sturm: Sylas will den Kaffeegebäck-Produzenten Stampfli AG in einen IT-Dienstleister verwandeln.
Ein Hauch von Vanille lag in der Luft. Dazu mischten sich die Düfte gemahlener Haselnüsse und gerösteter Kakaobohnen. Urs Amschwyler hatte eigentlich nicht viel übrig für die Zubereitung von Kaffeegebäck. Doch der Gang durch die Backstube der Stampfli AG liess ihn jedes Mal aufs Neue innehalten. Die Aromen, die ihm in die Nase stiegen, beschworen seine liebsten Kindheitserinnerungen herauf. Die Kombination aus Vanille, Haselnüssen und Kakaobohnen erinnerte ihn ans Schoggi-Giessen mit seiner Grossmutter.
Während Amschwyler sich seiner persönlichen Reise in die Vergangenheit hingab, eilte Dr. Alfons Stampfli mit weit ausholenden Schritten durch die Backstube. Er hielt direkt auf Amschwyler zu. Seit in vielen Teilen des Firmengebäudes Kameras hingen, war es für Stampfli ein Leichtes, seine Mitarbeiter zu finden. Er hatte nicht ganz das bekommen, was er wollte. Doch Korridore, Büros und die Backstube glichen mit all ihren Überwachungskameras dem Tresorraum einer Bank. Hinter Stampfli ging mit dem gleichen energischen Schritt ein junger Mann. Sein Anzug sass wie angegossen. Ganz offensichtlich massgeschneidert. Seine Schuhe glänzten im Licht der Neonröhren, die von der Decke der Backstube hingen. Handgefertigte Budapester. Er sah aus, wie eine jüngere Version Stampflis. Doch nichts davon konnte Amschwyler sehen. Er hatte seine Augen geschlossen und stand einfach nur da.
“Aaaaamschwyler!”, schrie Stampfli lauter, als er hätte müssen. In der Backstube war es in etwa so laut wie in einem gut besuchten Restaurant. Im Restaurant hätte Stampflis Schrei sicherlich für Stille gesorgt. In der Backstube bewirkte er, dass Amschwyler zusammenzuckte und zwei Schritte rückwärts stolperte. “Ist das denn zu glauben? Was wird das hier? Schlafen Sie jetzt schon im Stehen?”, bedrängte Stampfli Amschwyler. Irritiert blickte Amschwyler zwischen seinem Chef und dessen jüngerer Version hin und her. Es musste einer von Stampflis Söhnen sein. Amschwyler hatte die beiden Sprösslinge seines Chefs schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen. Soviel er wusste, war der ältere für sein Masterstudium an eine Uni in Grossbritannien gegangen. Der jüngere hatte Archäologie und Geologie studiert und bereiste seither den afrikanischen Kontinent. Angesichts der Kleidung des jungen Stampflis schloss Amschwyler auf den Älteren. Anzug und Schuhe passten irgendwie nicht zu Amschwylers Bild eines Archäologen.
“Ich … äh, entschuldigen Sie bitte Herr …, ich meine Dr. Stampfli”, stammelte Amschwyler. “Der Duft in der Backstube …” Stampfli brachte Amschwyler mit einer Handbewegung zum Schweigen. “Ich will es gar nicht wissen, Amschwyler”, sagte Stampfli. “Wir haben Wichtigeres zu besprechen. Erinnern Sie sich an meinen Sohn Sylas? Er hat gerade seinen Master in Business Information Systems an der Middlesex University in England abgeschlossen. Er will sich jetzt hier im Unternehmen einbringen. Ich möchte, dass Sie sich seine Ideen anhören!” Sylas streckte Amschwyler seine Rechte entgegen. Amschwyler ergriff sie. “Herr Amschwyler, es freut mich, Sie wiederzusehen. Wie lange ist es her? Vier Jahre, fünf?” Sylas packte Amschwyler sanft an der Schulter und schob in Richtung des Ausgangs der Backstube. “Lassen Sie uns einen Kaffee trinken gehen. Dann erzählen Sie mir vom Duft der Backstube, der Sie vorhin so bewegt hat.” Unsicher blickte Amschwyler zu seinem Chef. Doch Stampfli senior hatte ihnen bereits den Rücken zugekehrt und sich in die entgegengesetzte Richtung entfernt.
Auf dem Weg zur kleinen Cafeteria der Stampfli AG sprach Sylas ununterbrochen. Statt nach dem Duft der Backstube zu fragen, erzählte er Amschwyler von seinem Studium und schilderte seine Erfahrungen mit britischen Studentinnen. Die Selbstverliebtheit liegt wohl in der Familie, dachte sich Amschwyler. Doch als sie in der Cafeteria ankamen, wechselte Stampfli junior das Thema. “Ich erzähle schon wieder nur noch von mir. Lassen Sie uns über Sie sprechen. Mein Vater ist schwer beeindruckt von Ihnen. Und ich bin es auch. Sie wissen, was Sie tun. Das gefällt mir!” Die Worte klangen aufrichtig. Nach all den Jahren in Stampflis Diensten wusste er natürlich, dass ihn der Alte zumindest respektierte. Offen zugeben würde das Stampfli Amschwyler gegenüber aber nie. Doch Amschwyler war misstrauisch. Irgendetwas sagte ihm, dass sich der junge Stampfli bloss bei ihm einschmeicheln wollte. “Ich mache doch nur meinen Job”, entgegnete Amschwyler deshalb. Sylas schüttelte den Kopf.
“Sie sind zu bescheiden, mein Lieber. Sie und ich werden hier Grosses vollbringen. Mein Weitblick gepaart mit Ihrer Kompetenz. Oh, das wird fantastisch, sage ich Ihnen.” Sylas geriet ins Schwärmen. Er sprach von einem besseren Morgen. Von einer Zukunft, in der alles möglich sei. Die Stampfli AG werde sich erheben wie der Phönix aus der Asche. Amschwyler musste grinsen. Sylas war vielleicht nicht so voller Herrschsucht wie sein Vater, doch er teilte mit ihm den Hang zum Grössenwahn. “Was genau schwebt Ihnen denn vor, Herr Stampfli? Wir produzieren hier Kaffeegebäck. Sollten Sie nicht lieber mit dem Verantwortlichen für die Produktentwicklung sprechen?”, fragte Amschwyler.
Sylas lachte. “Sehen Sie, Herr Amschwyler, Sie hätten Recht, wenn ich in so kleinen Dimensionen denken würde wie mein Vater. Wir müssen aber über den Tellerrand hinausschauen. Mit dem Backbetrieb holen wir doch nichts. Ich will neue Märkte erschliessen.” Die Augen des jungen Stampfli begannen zu leuchten. Mit der Aufregung eines kleinen Jungen erzählte er von seiner Vision. “Ich sehe ein Rechenzentrum vor mir. So grün wie die Wiese, auf dem es steht. Der Strom stammt aus erneuerbaren Energien. Zur Kühlung speisen wir es mit Tiefenwasser des Stanglisbieler Sees. Wir bieten Colocation-Services und bei Bedarf Komplettangebote für die Unternehmen in der Region. Sehen Sie nicht, wie grossartig das sein wird?”
Amschwyler fragte sich, ob Stampfli junior ernsthaft meinte, was er da von sich gab. Er schien sich nicht im Klaren zu sein, was es bedeuten würde, ein Rechenzentrum aus dem Nichts aufzubauen. Die Stampfli AG würde das finanziell niemals stemmen können. Das Unternehmen stand gut da, doch die Summe, die der Bau des Rechenzentrums kosten würde, läge weit über dem Jahresumsatz. Und was sollte überhaupt die Idee mit dem Seewasser? Das kam Amschwyler so seltsam bekannt vor. “Was meint denn Ihr werter Herr Vater zu Ihrer Vision?”, fragte Amschwyler vorsichtig. Sylas ignorierte Amschwylers Frage. Er sprach einfach weiter über die vielen Möglichkeiten, die sich mit dem Rechenzentrum böten. Sie könnten ja auch zum Webhoster avancieren und Cloud-Services anbieten. Amschwyler lehnte sich zurück. Dem Jungen fehlte ganz offensichtlich jeglicher Bezug zur Realität.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum ihm die Idee von der Seewasserkühlung so bekannt vorkam. Im vergangenen Jahr wollte ein neugegründetes Unternehmen ein Rechenzentrum am Walensee errichten. Die Vision deckte sich ziemlich genau mit der des jungen Stampfli. Das Projekt war noch vor dem ersten Spatenstich gescheitert. Scherereien mit dem Namen des Unternehmens, Umweltbedenken und allen voran Finanzierungsprobleme verwandelten den Traum zum Albtraum.
“Ich will nicht unhöflich sein, Herr Stampfli. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie jetzt nach Ihrem Studium voller Tatendrang sind. Aber ich glaube nicht, dass die Zukunft der Stampfli AG in einem Rechenzentrum liegt.” Sylas blieb einen Augenblick lang still. Dann erhellten sich seine Züge. “Sie haben vollkommen Recht. Ein Rechenzentrum ist viel zu wenig. Wir müssen grösser denken.” Amschwyler schüttelte den Kopf. Er überlegte, ob er Stampfli junior erklären sollte, was es bedeuten würde, ein Rechenzentrum aufzubauen. Was es allein kosten würde, die Leitungen für die Stromversorgung legen zu lassen. Was es kosten würde, das Gebäude zu errichten. Wie schwierig es werden würde, Kunden zu gewinnen. Welche Verantwortung auf ihnen lasten würde, wenn sie die Server und Daten anderer Unternehmen schützen mussten. Würde der Junge überhaupt zuhören? Amschwyler bezweifelte es.
Während Stampfli junior weiter von seinem Traum erzählte und Amschwyler nach einer Möglichkeit suchte, dem Ganzen zu entkommen, erschien Stampfli senior in der Cafeteria. Sein Blick wanderte suchend durch den Raum. Dann entdeckte er sie und steuerte ihren Tisch an. “So, was meinen Sie Amschwyler? Hat der Junge ein paar brauchbare Ideen?”, fragte er. Amschwyler suchte in Stampflis Zügen nach einem Anzeichen für Sarkasmus. Doch seine Miene verriet nichts dergleichen. Er war so ernst wie immer. “Ich weiss nicht, was Ihnen Ihr Sohn erzählt hat. Aber – entschuldigen Sie bitte meine Kritik – die Idee von einem Rechenzentrum und der Stampfli AG als IT-Unternehmen halte ich für fernab der Realität. Ich hatte Ihnen eigentlich vorschlagen wollen, aus Kostengründen unser jetziges internes Rechenzentrum in ein externes auszulagern. Eines, das nicht uns gehört. Was Ihr Sohn hier im Sinn hat, übersteigt meines Erachtens nach unsere Möglichkeiten bei weitem.”
Der alte Stampfli brummte etwas Unverständliches. Dann blickte er abwechselnd zwischen seinem Sohn und Amschwyler hin und her. “Was glauben Sie denn, würde der Bau eines Rechenzentrums kosten?”, fragte Stampfli nach einem Augenblick des Schweigens. Amschwyler konnte es kaum glauben. Stand sein Chef allen Ernstes hinter der Idee seines Sohnes? “Das ist schwer zu sagen, Herr Dr. Stampfli. Je nach Grösse und Ausstattung des Zentrums bewegen wir uns schnell im zweistelligen Millionenbereich, meine ich.” Stampfli sog hörbar Luft ein. “Sylas, deine Idee ist vom Tisch!”
Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.