Folge 3

„Ich will die totale Überwachung“

Eine ganze Woche hat sich der Chef der Stampfli AG nicht mehr im Betrieb blicken lassen. Doch nun ist Dr. Alfons Stampfli zurück. Um zu verhindern, dass sich sein Malheur wiederholt, soll Amschwyler ein Videoüberwachungssystem installieren. Stampfli vergisst dabei die gesetzlichen Grundlagen. Amschwyler nicht.

Amschwyler hatte schon damit gerechnet, dass Stampfli infolge seiner selbstverschuldeten Demütigung eine Weile nicht mehr in Stanglisbiel auftauchen würde. Dass Stampfli, der einen infizierten USB-Stick auf dem Parkplatz fand und diesen an seinen Rechner anschloss, eine ganze Woche brauchen würde, um über seinen Fehltritt hinwegzukommen, hatte Amschwyler zunächst verwundert. Der Grund für Stampflis langes Fernbleiben wurde Amschwyler jedoch schnell klar. Denn obwohl Amschwyler es vermieden hatte, Stampflis dummen Fehler an die grosse Glocke zu hängen, war das Ganze ans Licht gekommen – und schlimmer noch, hatte Stampfli davon erfahren, dass hinter seinem Rücken über ihn gelacht wurde. Vermutlich war es Stampflis Sekretärin. Das doppelzüngige Biest hatte sicher erst allen erzählt, was passiert war, und danach Stampfli davon berichtet, dass er sich zum Gespött seiner Mitarbeiter gemacht hatte, dachte sich Amschwyler.Andererseits war es Amschwyler mehr als recht, wenn er Stampfli nach dessen unglaublicher Aktion eine Weile nicht ertragen musste. Diese Auszeit hatte nun aber ein Ende. Kurz bevor Amschwyler sein Büro am Freitagabend verliess, bekam er eine sehr knapp formulierte E-Mail von Stampfli. Darin entschuldigte sich Stampfli einsilbig für seine Absenz und kündigte seine Rückkehr für Montag an. Es gebe eine dringende Angelegenheit zu besprechen. Amschwyler versuchte gar nicht erst, darüber nachzudenken, was für eine Angelegenheit das sein könnte. Er würde es ja früh genug erfahren.

Als Amschwyler am Montagmorgen auf den Firmenparkplatz der Stampfli AG fuhr, stand der Wagen seines Chefs schon dort. Die erste Drohung hatte Stampfli also wahr gemacht. Er traute sich wieder unter die Augen seiner Mitarbeiter. Angetrieben von einem schwachen Anflug von Neugier, ging Amschwyler deshalb direkt zu Stampfli.

„Amschwyler! Da sind Sie ja endlich“, begrüsste ihn Stampfli forsch. Amschwyler blickte auf seine Uhr. Viertel vor acht. Er war 15 Minuten zu früh am Arbeitsplatz, und doch wollte der alte Stampfli ihm schon wieder ein schlechtes Gewissen einreden. Stampfli schien seine Schmach tatsächlich überwunden zu haben. „Guten Morgen Herr Dr. Stampfli. Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich gut erholt?“, erkundigte sich Amschwyler und konnte ein Grinsen dabei nicht ganz unterdrücken. „Was grinsen Sie da in sich hinein, Amschwyler?“ Stampflis Stimme bewegte sich schon wieder nahe an der Grenze zum Schreien. „Ich glaube, hier ist in der letzten Woche mehr als genug gelacht worden. Sie haben wohl noch nie einen Fehler gemacht, wie?“Amschwyler zog es vor, die Frage unbeantwortet zu lassen. „Das dachte ich mir“, kommentierte Stampfli Amschwylers Schweigen und fuhr etwas ruhiger fort. „Kommen wir zum Punkt. Ich will verhindern, dass sich das Malheur von letzter Woche wiederholt. Ich will die totale Überwachung, Amschwyler. Jeder Winkel meiner Firma soll mit Kameras bestückt werden. Und alle Bilder will ich hier auf meinem Bildschirm und am besten auch auf meinem iPad einsehen können.“

Die Idee mit der umfassenden Videoüberwachung war Amschwyler nach dem Zwischenfall der vergangenen Woche auch in den Sinn gekommen. Er hatte versucht, herauszufinden, wer den USB-Stick mit der Schadsoftware platziert haben könnte. Mit der Hilfe eines alten Studienkollegen hatte Amschwyler die Software Stück für Stück zerlegt. Doch ihre Arbeit war nicht von Erfolg gekrönt. Urheber und das genaue Motiv der Aktion blieben ein Mysterium. Sollte es zu einem erneuten Versuch kommen, die Produktion der Stampfli AG lahmzulegen oder gar Daten zu entwenden, wollte Amschwyler gewappnet sein. Mit einem Videoüberwachungssystem könnten sie zumindest einem physischen Eindringling auf die Schliche kommen. Hätte Stampfli das Thema nicht selbst angeschnitten, hätte es Amschwyler selbst zur Sprache gebracht.

„Technisch gesehen sollte die Videoüberwachung in dem Umfang, wie Sie sich das vorzustellen scheinen, kein allzu grosses Problem darstellen. Durch unsere jüngsten Investitionen in die Netzwerkinfrastruktur fehlen uns im Prinzip nur die IP-Kameras, Netzwerk­rekorder und die entsprechende Software. Keine grosse Sache, glaube ich. Ab…“ Noch bevor Amschwyler das Wort „aber“ zu Ende sprechen konnte, schlug Stampfli mit der flachen Hand auf den Tisch. „Grossartig, Amschwyler! Worauf warten Sie noch?“

Amschwyler ermahnte sich, das Wort „aber“ aus seinem Wortschatz zu verbannen. Wann immer er es in Stampflis Gegenwart gebrauchte, explodierte dieser augenblicklich, ignorierte es vollkommen oder verlor jegliches Interesse am Gespräch. „Ich fürchte, Sie freuen sich etwas zu früh. Die Technik ist in diesem Fall ausnahmsweise nicht das Problem. Die gesetzlichen Bestimmungen sind es.“

„Was soll das heissen, Amschwyler? Ich kann doch auf meinem Grund und Boden tun und lassen, was ich will! Und überhaupt, seit wann wissen Sie etwas von gesetzlichen Bestimmungen?“ Amschwyler seufzte. Es waren kaum mehr als zehn Minuten vergangen, seitdem er seinen Chef nach gut einer Woche wieder zu Gesicht bekommen hatte. Zehn Minuten, die Amschwyler an den Rand der Verzweiflung brachten. Für alles musste er sich vor Stampfli rechtfertigen. Selbst oder wohl gerade dann, wenn er mehr wusste als sein Chef.

„Sie vergessen, Herr Dr. Stampfli, dass Sie auf Ihrem Grund und Boden Mitarbeiter beschäftigen. Die Vorgaben vom Gesetzgeber zum Thema Videoüberwachung am Arbeitsplatz sind ziemlich eindeutig. Ich glaube, Ihre Idee von der ‚totalen Überwachung‘ können Sie sich aus dem Kopf schlagen.“ Amschwyler beobachtete Stampfli ganz genau, bevor er fortfuhr. Die Gesichtsfarbe seines Chefs begann sich bereits in Richtung rot zu verfärben, und an der Stirn zeichnete sich schwach eine pulsierende Ader ab. Jetzt war Vorsicht geboten.

„Das Verhalten von Personen darf nicht überwacht werden. Ausserdem gilt das Mitspracherecht der Mitarbeiter vor dem Einsatz einer Videoüberwachungsanlage. Andernfalls haben Sie ganz schnell eine Gewerksch…“ Amschwyler konnte den Satz nicht beenden. Stampfli war aufgesprungen, hatte seinen Schreibtischstuhl dabei umgeworfen und sog hörbar Luft ein. „Wagen Sie es bloss nicht, dieses Wort in meiner Gegenwart auszusprechen“, zischte er. „Wenn es etwas gibt, das ich abgrundtief verabscheue, dann sind das Arbeitnehmer, die sich gegen ihre Arbeitgeber zusammenrotten. Was haben diese Leute nicht verstanden? Die beiden Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer implizieren doch mehr als deutlich, wie das Ganze funktioniert.“ Stampfli schnaubte, stellte seinen Bürostuhl wieder auf und setzte sich. Er zwang sich sichtbar um Haltung. Eine ganz neue Seite an Stampfli, dachte sich Amschwyler.

Was denn nach Schweizer Recht in Sachen Videoüberwachung möglich sei, fragte Stampfli, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. Amschwyler erklärte, dass der Arbeitgeber nach Artikel 328 des Schweizer Obligationenrechts gehalten sei, die Gesundheit und die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu schützen. Im Zusammenhang mit der Überwachung bedeute dies, dass Überwachungssysteme, die das Verhalten einer Person überwachen sollen, nicht eingesetzt werden dürfen. Wenn die Überwachung aus anderen Gründen erforderlich sei, müssen die Überwachungssysteme gemäss Artikel 26 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz so gestaltet und angeordnet werden, dass sie die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer dadurch nicht beeinträchtigen.

Grundsätzlich gelte, dass eine Verletzung der Persönlichkeit widerrechtlich sei, sofern sie nicht durch Einwilligung des Betroffenen, durch überwiegendes privates oder öffentliches Interesse gerechtfertigt sei. Stampflis linkes Auge begann nervös zu zucken. Amschwyler hatte diesen Tick schon früher bemerkt. Das Zucken verhiess meist nichts Gutes. Fieberhaft überlegte er, wie er seinen Chef beruhigen könnte. Auf der Seite des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten hatte doch noch mehr gestanden. Plötzlich fiel es ihm wieder ein.

„Bevor Sie nun auch noch den Bund verteufeln wollen … Es gibt eine Möglichkeit, wie Sie ihre Kameras doch noch bekommen könnten. Der Bund empfiehlt den Einsatz von sogenannten ‹Privacy Filters›. Das ist eine Softwarelösung, die gefilmte Gesichter in Echtzeit verschlüsselt und so die Privatsphäre garantieren soll. Falls Aufnahmen im Falle einer strafrechtlichen Verfolgung zur Täteridentifizierung benötigt werden, können die Aufnahmen entschlüsselt werden“, Stampflis Gesichtszüge erhellten sich wieder ein wenig und das Zucken verlor an Intensität. „Trotzdem werden Sie nicht umhinkommen, sämtliche betroffenen Mitarbeiter zum Thema zu befragen.“ Stampfli knirschte mit den Zähnen. „Wie sollen wir vorgehen, Amschwyler?“ Noch eine neue Seite. Stampfli fragte ihn – Amschwyler – um Rat.

„Ich schlage vor, dass Sie sich überlegen, wie Sie die ganze Geschichte den Mitarbeitern schmackhaft machen, und ich hole Offerten für die Installation des Überwachungssystems ein. Und wenn Sie ganz sichergehen wollen, dass alles nach Recht und Ordnung verläuft, nehmen Sie mit dem Datenschutzbeauftragten des Bundes Kontakt auf.“ Wirklich zu gefallen schien Stampfli dieser Vorschlag nicht. Aber Stampfli hatte ja auch geglaubt, dass er nur darauf warten musste, dass die Bilder der Kameras auf seinem Bildschirm erschienen. Nun sollte er, der durch sein eigenes Verschulden zum Gespött seiner Mitarbeiter geworden war, genau vor jene treten und ihnen verkünden, dass er sie künftig überwachen wolle. Der Gedanke amüsierte Amschwyler.

Er fragte seinen Chef, ob er sonst noch etwas für ihn tun könne. Stampfli brummte irgendetwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. Daraufhin verliess Amschwyler gut gelaunt das Büro seines Chefs. Stampfli würde eine Weile an seiner Aufgabe zu kauen haben, und Amschwyler konnte sich auf Einkaufstour begeben. Kameras interessierten ihn zwar nicht so sehr wie andere Hardware, aber für den Augenblick war ihm das egal.

Amschwylers Welt erschien 2014 monatlich im IT-Markt Magazin, Netzmedien AG, Zürich.