Simone blinzelte. Sie blickte sich um. Sie sah grüne Plastikkisten mit Äpfeln, leicht gekippt auf Tischen, die mit orangefarbenen bis auf den Boden hängenden Tüchern bedeckt waren. Simone legte den Kopf schief, genau in den Winkel der Apfelkisten.
Menschen packten zwei, drei oder vier Äpfel in durchsichtige Plastiksäcke und gingen zu einem Gerät mit einer Metallschale und ganz vielen Zeichen, die für Simone keinen Sinn ergaben.
Sie rümpfte die Nase. Äpfel mochte sie nicht.
Den Kopf weiterhin im Winkel der gekippten Apfelkisten haltend ging sie ein paar Schritte vorwärts, drehte sich um ihre eigene Achse. Ihr linkes Auge begann zu zucken. Überall Äpfel.
„Wo sind die Nachtschattenbeeren?“, schrie sie mit schriller Stimme.
Einige der Apfelmenschen blickten sie irritiert an. Einer davon trug eine grüne Schürze und kam auf sie zu. Ein Gärtner, dachte Simone. Der konnte ihr helfen.
Sie richtete ihren Kopf wieder auf und steuerte den Gärtner an.
„Ich brauche 41 Nachtschattenbeeren“, sagte sie dem Gärtner und kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.
Der Gärtner packte Simone mit seiner linken Hand sanft am Arm und stach ihr mit der rechten die Nadel einer Spritze in den nackten Oberarm.
Simones Glieder wurden mit einem Mal bleischwer. Müdigkeit überkam sie. Sie wollte aber nicht schlafen, sie brauchte doch so dringend die Beeren der Nachtschattenpflanze. Bevor sich ihre Augen schlossen, verwandelte sich die grüne Schürze des Gärtners in einen weissen Kittel. Neben dem Weisskittel erschien ein zweiter, die Hände auf den Griffen eines Rollstuhls. Die Apfelmenschen verschwammen, Simones Augen schlossen sich.
André stand vor dem Regal mit Dosen. Immer wenn er in den Supermarkt ging, suchte er als erstes den Gang mit den Konserven auf. Er kaufte keine. Er stand einfach da und betrachtete Mais in der Dose, Erbsen in der Dose, Artischocken in der Dose, Champignons in der Dose, Sardinen in der Dose.
„Ich weiss wie ihr euch fühlt“, sagte er leise und liess den Kopf hängen.
„Ich würde euch gern befreien, aber die Welt hier draussen ist auch nur ein Gefängnis.“
Ein schriller Schrei schreckte ihn auf. Das kam aus der Obst- und Gemüseabteilung. Da musste er ohnehin noch hin. Ein letzter Blick auf die Dosen, dann wandte er sich ab und schlurfte zum Ende des Gangs.
In der Gemüseabteilung angekommen notierte er ohne Interesse wie eine junge Frau von zwei Krankenpflegern oder Ärzten – was spielte es schon für eine Rolle – in einen Rollstuhl gehievt wurde.
André seufzte und blickte in Richtung der Tomaten.
André mochte Tomaten nicht sonderlich. Aber sie standen auf seinem Einkaufszettel und sie waren das einzige Gemüse, das er ohne Handschuhe berühren konnte. Ihre glatte Oberfläche schmeichelte der Haut seiner Hände. Die rote Farbe der Frucht stach aus dem tristen Grau der Welt hevor. Sie leuchteten fast. Als hätten Sie das Licht der Sonne gespeichert.
Nur noch wenige Schritte trennten ihm von seinem kleinen Glücksmoment als ihn plötzlich jemand von der Seite anrempelte.
„Oh Verzeihung, ich habe Sie nicht gesehen. Ich hatte wohl Tomaten vor den Augen. Hahahaha“, sagte der hochgewachsene Mann, der André angerempelt hatte. Dabei hielt er sich zwei faustgrosse Tomaten vor die Augen und wollte gar nicht mehr aufhören, zu lachen.
Das war‘s. André stellte seinen Einkaufskorb auf den Boden und verliess den Supermarkt.
„Die Welt ist ein Gefängnis, voller Irrer“, flüsterte er.
Roger wusste nicht wie er in den Supermarkt gekommen war. Aber das war egal. Er stand mitten in der Gemüseabteilung und sog die Luft ein. Er nahm einen Apfel in die Hand und schnupperte daran. Strich zärtlich über Birnen, grinste bis über beide Ohren. Alles um ihn herum strahlte in Farben, wie er sie noch nie gesehen hatte. Der Nüsslisalat leuchtete wie ein Smaragd. Die Rüebli glühten wie Lava. Sein Blick fiel auf die Tomaten. Was für ein Rot.
Roger griff sich eine und rieb sie an die Wange. Er küsste sie, nahm eine zweite. Aus dem Augenwinkel sah er einen jungen Mann, der seiner kranken Frau liebevoll in einen Rollstuhl half.
Roger drückte sich die Tomaten vor die Augen. Auf einmal stiess er gegen einen Widerstand. Vor ihm stand ein kleiner gebückter Mann, mittleren Alters. Er hatte tiefe Augenringe und roch nach modrigem Leder.
Der könnte etwas Aufmunterung gebrauchen, dachte Roger.
„Oh Verzeihung, ich habe sie nicht gesehen. Ich hatte wohl Tomaten vor den Augen“, sagte Roger und lachte lautstark. Er konnte gar nicht aufhören, zu lachen.
Roger bemerkte nicht, wie der kleine Mann seine Einkäufe auf dem Boden abstellte und den Supermarkt verliess.
Die Geschichte habe ich im Maz-Kurs „Schreiben wie eine Schriftstellerin“ bei Angelika Overath geschrieben.